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Văn họcThơ và Thơ TrẻVăn học nước ngoài
3.9.2002
Marcel Reich-Ranicki
Ein Plädoyer in Sachen Lyrik
 
Reden wir offen: Die Lyrik - brauchen wir sie wirklich? Millionen Menschen leben
ohne die Dichtung. Sie wissen von ihr nicht und fühlen sich dabei ganz gut: Nichts fehlt
ihnen und vieles bleibt ihnen erspart. Denn die Lyrik ist eine höchst fragwürdige
literarische Gattung - und es gibt Anlass genug, vor ihr zu warnen. In der Prosa wird mit
offenen Karten gespielt, in der Lyrik hingegen oft mit gezinkten. Bei ihr fanden immer
schon jene Unterschlupf, die nichts zu sagen haben, doch unbedingt gehört werden
möchten, die singen wollen, weil sie nicht denken können, die dichten müssen, weil
ihnen das Schreiben unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet.

Was sich in Prosa als unverkäuflich erwies, das wurde von vielen Autoren in Versen
feilgeboten und auch an den Mann gebracht. Was zu töricht war, um gesagt zu werden,
haben sie gern gesungen. Wären die Lyriker gar die Tenöre unter den Schreibern?
Soviel ist sicher: Mit der Fülle des Wohllauts - oder zumindest des vermeintlichen
Wohllauts - ließ sich intellektuelle Dürftigkeit effektvoll tarnen. Wer also feierlich sang
und raunte, der brauchte die Frage nach dem Sinn und der Intelligenz seiner Worte nicht
zu befürchten.

Ja, man liebte die Dämmerung und das Geheimnisvolle mehr als die Klarheit und die
Nüchternheit, man traute der Beschwörung mehr als der Analyse. Die Denker schätzte
man hierzulande vor allem dann, wenn sie dichteten und die Dichter, wenn sie nicht
dachten. Der Missbrauch der lyrischen Form zur Flucht ins Undeutliche und ins
Verschwommene, zum Rückzug ins Unkontrollierbare bis hin zu den Müttern, war und ist bisweilen auch heute noch ein Erzübel unserer Literatur.

So war in Deutschland das Gedicht oft ein Refugium für Autoren mit und ohne Talent, doch auf jeden Fall mit wenig Geist. Und für ein Publikum, das willig der Aufforderung folgte: Mitzusingen, nicht mitzudenken seid Ihr da! Wenn sich gerade beim Volk der Dichter und Denker die Ansicht einbürgerte, man könne entweder Dichter oder Denker sein, doch schwerlich beides zugleich, dann hat das mit dem Einfluss eines großen Mannes zu tun, der freilich mit seinen zahllosen Äußerungen über die Literatur, zumal über die Lyrik und die Kritik, viel Unheil gestiftet hat. Ich meine Goethe.

In seinen "Maximen und Reflexionen" findet sich die fatale Feststellung: "Künste und Wissenschaften erreicht man durch Denken, Poesie nicht; denn diese ist Eingebung..." [1] Man mache sich nichts vor. Eine gelegentliche Fehlleistung war das nicht. Goethe hat ähnliches leider oft wiederholt, so etwa in den Gesprächen mit Eckermann, in denen er ganz ungeniert dekretierte: "Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser." [2]

Derartiges wurde ein Jahrhundert lang in Deutschland andächtig zitiert. Immer wieder
plädierte man, in der Nachfolge Goethes, für die Inspiration und gegen den Intellekt und meinte
allen Ernstes, dass das Dichten die klare Denkarbeit beeinträchtigte und das Denken
wiederum der holden Dichtkunst schade. Damit mag der Glaube an die erlösende Kraft der Poesie
zusammenhängen.

Aber die Dichtung hat noch nie jemanden zu erlösen vermocht. Sie ist auch für die Belehrung
wenig geeignet. Wer seine Zeitgenossen aufklären oder unterweisen möchte, der ist gut beraten,
wenn er statt einer Ode einen Artikel oder eine Abhandlung verfasst. Und wer da meint - um
auch das noch gleich hinzuzufügen -, mit Versen ließe sich auf den Lauf der Dinge Einfluss ausüben, der macht sich rührende Illusionen. Nein, die Welt verändern können die Lyriker nicht. Der unentwegt davon redete, Bertolt Brecht, konnte sich immerhin dessen rühmen, dass seine Arbeiterlieder, von Hanns Eisler vertont, in den letzten Jahren der Weimarer Republik viel gesungen wurden. Doch hat weder das Solidaritätslied die Solidarität der Arbeiter noch das Einheitsfrontlied die Einheitsfront bewirkt - ebensowenig wie die Songs der "Dreigroschenoper" das bürgerliche Berliner Theaterpublikum zu erziehen vermochten.

Wie aber, wenn den Dichtern die Macht gegeben wäre, die Welt zu verändern? Wäre das wirklich
wünscheswert? Zu oft haben sie der Tyrannei gedient und zu viele Torheiten sind im Laufe der
Jahrhunderte von ihnen in bisweilen attraktiver Verpackung angeboten worden, als dass man diese
Frage auch nur für einen Augenblick ernst nehmen könnte. Schon Plato wollte von den Dichtern nichts wissen. Also sollten wir wohl vor diesen unzuverlässigsten aller Kantonisten auf der Hut sein. Fragt sich nur, ob wir auf sie verzichten können, ob wir sie nicht doch brauchen, auch heute, gerade heute.

Jener römische Poet, der vor zwei Jahrtausenden stolz erklärte, er habe mit seinen Oden ein Denkmal errichtet, dauerhafter als Erz - geirrt hat er sich nicht. In der Tat, Gedichte, zarte Gebilde, gemacht aus dem flüchtigsten Material, aus Worten, können Jahrtausende besser überstehen als Tempel und Paläste. Es lässt sich auch nicht übersehen, dass die Lyrik mitunter imstande ist, wenn auch nicht gleich die Welt zu verändern, so doch erträglicher zu machen. Ja, sie kann das Individuum aus seiner Gleichgültigkeit reißen und vielleicht sogar aus den herkömmlichen Denkbahnen werfen.

Müßig wäre es, wenn nicht läppisch, wollten wir versuchen, die Lyrik höher einzustufen als das
Drama oder die Erzählung. Gedichte sind weder besser noch tiefer als andere literarische Arbeiten.
Aber sie sind anders, sie gehen weiter. Der Lyriker verbirgt sich nicht im Gedicht, er muss sich in ihm stellen. Das Gedicht ist die riskanteste, die schamloseste aller literarischen Formen. Ein Dichter - meinte Goethe und irrte diesmal nicht - sei umsonst verschwiegen, denn "Dichten selbst ist schon Verrat".

Lyriker sind professionelle Exhibitionisten - nur dass sie nicht etwa ihre Bloße poetisieren, sondern
sich in der Poesie bloßstellen. Daher können wir uns in der Regel eher mit einem schwachen Theaterstück oder mit einem mittelmäßigen Roman abfinden als mit einem dürftigen Gedicht. Der Dramatiker nimmt ja unser Interesse für seine Figuren in Anspruch und der Romancier für die Welt, die er zeigen möchte, der Lyriker hingegen stets und vor allem für sich selber. Wer sich aber entblößt, der provoziert seine Umwelt: Dramen, darf man wohl sagen, sind Angebote und Romane Einladungen - das Gedicht jedoch ist eine Herausforderung.

Doch las ich neulich, der Lyriker gleiche dem Schwimmer und sein Rettungsring sei die Form. [3]
Das scheint mir ein unglückliches Bild. Denn ebenso könnte man sagen, der Rettungsring des Geigers sei die Violine. Nein, das Gedicht kann sich schon deshalb nicht unter das schützende Dach der Form retten, weil es selber die Form ist: Von ihr, nur von ihr bezieht es seine Existenzberechtigung.

Dennoch muss man Stefan George widersprechen, der einst geschrieben hat: "Den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, Gelahrtheit), sondern die Form." [4] Man sollte sich, meine ich, hüten, das eine gegen das andere auszuspielen: Die in der Literatur immer leidige, wenn nicht fatale Trennung von Inhalt und Form ist in der Lyrik gegenstandslos. Denn die Form - das ist schon der Sinn des Gedichts. Damit hängt es
wohl auch zusammen, dass unsere Welt, deren Darstellung den Romanciers und in noch höherem
Maße den Dramatikern so große und häufig unüberwindbare Schwierigkeiten bereitet, sich der
lyrischen Formulierung nicht entzieht: Wo die Dramatiker verstummen und die Romanciers ratlos
scheinen, da ist es ihnen, den Lyrikern, gegeben, zu sagen, wie sie leiden, wie wir leiden.

Nun wirft man der Lyrik unserer Zeit gern vor, sie sei meist düster, pessimistisch oder gar nihilistisch. Aber Optimismus, Pessimismus, Nihilismus - das sind Kategorien, mit denen man noch nie der Dichtung beikommen konnte. War Hölderlin ein Pessimist? Waren Heine oder Brecht
etwa Optimisten? War Benn wirklich ein Nihilist? Es genügt solche Fragen zu stellen, um bewusst zu machen, dass sie nicht angemessen, dass sie lächerlich sind. Heute sind es gerade die düsteren
Gedichte, denen der überraschende Durchbruch glückt, die blitzartige Erhellung gelingt. Oft ist es
paradoxenweise die Finsternis, von der das Licht ausgeht.

Aber worauf ist die Lyrik-Renaissance, die manche schon als "Lyrik-Welle" abwerten möchten, denn zurückzuführen? Je trostloser unsere Epoche, je düsterer unsere Zukunftsaussichten, je wirrer und chaotischer die Welt, die uns umgibt, desto größer unser Bedürfnis nach - ja wonach? Etwa nach Trost? Vielleicht, doch wird uns ihn die Dichtung nicht liefern. Die Bevölkerung mit Tranquilizern und Schmerzlinderungsmitteln zu versorgen gehört zur Aufgabe nicht der Poesie, sondern der Pharmazie.

Nein, trösten oder besänftigen kann uns die Lyrik nicht. Aber sie kommt allein durch ihre Existenz
unserem Abscheu vor dem Chaotischen entgegen. Oder dürfen wir gar sagen, unserem Bedürfnis nach Ordnung? Dies jedenfalls ist sicher: Wer dichtet, der widersetzt sich der Willkür und dem
Chaos. Dichten heißt ordnen. In der achten der "Duineser Elegien" lesen wir: "Wir ordnens. Es
zerfällt. / Wir ordnens wieder und zerfallen selbst." Rilkes Worte gelten auch und vor allem für die
Lyriker.

Da Ordnung die Devise der Dichtung ist, sollte man sich nicht wundern, dass diejenigen, denen wir
die individuellsten, die subjektivsten, ja die zartesten Gebilde der Literatur verdanken, sich nicht scheuen, die poetischen Hervorbringungen ihrer Zeitgenossen und Kollegen öffentlich zu analysieren und zu beurteilen. Anders als die Romanciers oder die Dramatiker sind die Lyriker nahezu immer zugleich die Kritiker der Lyrik. Und das hat mit ihrem ausgeprägten Formbewusstsein zu tun.

Dieses eminente Formbewusstsein unserer Poeten tragt auch dazu bei, dass sich in den simplen Worten "Lyrik heute" mehr als ein Wunsch oder ein Bekenntnis verbirgt - nämlich ein fast schon trotziges Programm. Poesie ist immer auch Protest und Auflehnung. Wer dichtet, der rebelliert gegen die Vergänglichkeit. Selbst wenn sie den Untergang verkündet, wenn sie dem Tod huldigt, wenn sie den Zerfall besingt - dementiert die Dichtung, ob sie es will oder nicht, den Untergang, den Tod, den Zerfall. Lyrik ist Lebensbejahung. Daher die wachsende Rolle der Poesie in unseren Tagen: Ihr schwermütiger, von manchen noch nicht wahrgenommener oder mit dem obligaten
Unbehagen registrierter Siegeszug hat hier seine tiefste Ursache. Es zeigt sich, dass die Antwort der
Literatur, auf die wir inmitten der Bedrohung und Gefährdung warten, am ehesten ihre radikalste
Gattung geben kann - eben die Lyrik.

Aber der Dichter, der seiner Zeit nachläuft, holt sie nie ein; vielmehr wird er von ihr uberrannt. Der
Dichter wiederum, der vor seiner Zeit die Augen verschließt, verfehlt seine Aufgabe. Die Erben
Heyms und Trakls, Benns und Brechts lassen sich weder das eine noch das andere zuschulden
kommen. Manch ein deutsches Gedicht dieser Jahre zielt nur auf geringfügige Details unserer Gegenwart ab und trifft sie doch mitten ins Herz. Und wenn sich heute bei sehr unterschiedlichen Lyrikern, ebenso jüngeren wie älteren, immer deutlicher die Hinwendung zur strengen Form bemerkbar macht - zu den klassischen Mustern der Poesie, zum Reim und zur Strophe, zu den Ordnungsprinzipien des Gedichts -, so ist dies nicht etwa als Flucht aus der Zeit zu verstehen, wohl aber als unmittelbare und auch selbstbewusste Reaktion auf die Verworrenheit der Epoche, auf ihr Grauen und ihren Schrecken.

Wie man es auch nimmt - die Poesie ist eine zwiespältige Sache. Platos Warnung hatte schon gute
Gründe. Ja, diese älteste Gattung der Literatur ist die bedenklichste und gefährlichste - und zugleich die kühnste und radikalste, die empfindsamste. Allerdings wäre zu überlegen, ob denn das eine
ohne das andere überhaupt möglich wäre. Heine fragt einmal, ob die Poesie etwa eine Krankheit des Menschen sei, "wie die Perle eigentlich nur der Krankheitsstoff ist, woran das arme Austertier leidet".[5] Wenn Heine recht hat, dann ist es jedenfalls der Menschheit seltsamste, vielleicht sogar schönste Krankheit. Und wohl nie waren wir der Schönheit mehr bedürftig als heute. Aber ist sie nur schön und nicht auch nützlich? O doch, oft ist die Poesie auch nützlich - nützlich weil schön.



[1] Johann Wolfgang Goethe: "Artemis-Gedenkausgabe". Bd. 9, S. 602.
[2]Johann Peter Eckermann: "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens". Mit einer Einführung herausgegeben von Ernst Beutler. "Artemis-Gedenkausgabe". Bd. 24, S. 636.
[3]Die Formulierung stammt aus Harald Hartung's bemerkenswertem Aufsatz "Das Gedicht und die Regel". Zu finden in: "Merkur" 1980, Heft 10.
[4]Stefan George: "Werke" . Ausgabe in vier Bänden. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1983. Bd. 2, S. 310.
[5]Heinrich Heine, "Sämtliche Schriften". Herausgegeben von Klaus Briegleb. Carl Hanser Verlag, München
1968 ff. Bd. 3 (1971), S. 441.

Nguồn: Marcel Reich-Ranicki, Lauter Lobreden, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994, S. 16 - 22