trang chủ talaCu ý kiến ngắn spectrum sách mới tòa soạn hỗ trợ talawas
  1 - 20 / 7412 bài
  1 - 20 / 7412 bài
tìm
 
(dùng Unicode hoặc không dấu)
tác giả:
A B C D Đ E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Ý Z
Văn họcVăn học nước ngoàiXã hộiĐồng tính luyến ái trong xã hội hiện đại
1.1.1990
Michael Sollorz
„Mit dem Sprechen fängt alles an. Auch über die Ängste und Vorurteile im eigenen Kopf.“
Ein Interview mit dem deutschen Schriftsteller Michael Sollorz
 
Talawas: Michael Sollorz, Sie sind Autor von mehreren Büchern und zahlreichen Beiträgen in den öffentlichen Medien. Wie stark kommt Ihre Homosexualität in diesen Werken zum Ausdruck? Welche Bedeutung hat das Schwulsein für Ihr Schaffen als Schriftsteller?

Michael Sollorz: In meiner Arbeit trete ich seit zwanzig Jahren offen als Autor in Erscheinung, dessen eigene Homosexualität ihm die Möglichkeit gibt, diesen Erfahrungsraum auch in Büchern zu gestalten. Jeder seriöse Autor sollte meiner Meinung nach vor allem über jene Dinge schreiben, die er am besten beurteilen kann. Das ist in meiner Biografie neben der Liebe zu Männern zum Beispiel auch die prägende Erfahrung einer Jugend im Sozialismus und die jähe Veränderung, über Nacht im Kapitalismus zu wohnen, den Sieg des Westens und seiner Werte erleben zu müssen. Was die Homosexualität in meinen Büchern betrifft, so halte ich ihr Vorhandensein für ein Gebot der Wahrhaftigkeit. Würde ich mein Herz an schöne Frauen verschenken, schriebe ich gewiss darüber. So schreibe ich eben über die Liebe zwischen Männern, da kenne ich mich besser aus. Es gibt, bis auf eine Anzahl von sozialen Besonderheiten, im Grunde keine Unterschiede. Liebe ist Liebe. Die Freude und der Schmerz sind in ihrer Summe gleich. Mein bisher erfolgreichstes Buch, der Roman Abel & Joe, ist so eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern. Abel ist in der DDR groß geworden, Joe kommt aus Westdeutschland. Das Buch spielt vor dem Hintergrund der dramatischen Veränderungen, die der ehemals sozialistische Teil der Stadt Berlin erlebt, handelt also auch von einem Gefühl des Heimwehs, Heimweh nach dem Land der Jugend, das es nicht mehr gibt. Ihre Homosexualität erleben meine Figuren nicht mehr als Problem, sondern einfach als ihren normalen Lebensalltag. Ihre Probleme sind dieselben, die alle Menschen haben. Geld verdienen, Ideale verfolgen, sterben müssen – und wie sie alle heißen. Wenn mein eigenes Schwulsein überhaupt eine besondere Bedeutung für die Arbeit als Schriftsteller haben sollte, so liegt sie höchstens in einer gesteigerten Sensibilität für Brüche, Lügen und Irrtümer – ganz ähnlich verhält es sich ja mit meiner Herkunft aus der DDR. Als junger Bursche dachte ich, ich werde im Sozialismus alt werden. Das Leben ist anders gekommen. Als junger Bursche dachte ich ferner, ich würde mit Frau und Kindern alt werden. Auch hier ist das Leben anders gekommen. Die Erfahrung solcher Brüche ist für Schriftsteller sehr wertvoll.

Talawas: Ist es für Sie wichtig, daß Ihr Leser auch diese Bedeutung erkennt/anerkennt? Michael Sollorz: Durchaus. Da sind zunächst die vielen Tausend meiner homosexuellen Leserinnen und Leser, denen ich wünsche, dass sie etwas von ihrer eigenen Lebenswirklichkeit und ihren Erfahrungen wiederfinden. Andererseits auch für meine heterosexuellen Leserinnen und Leser. Auch sie werden viel von sich wiederfinden und dabei merken, dass die verschiedenen Arten der Liebe so verschieden überhaupt nicht sind. Ich wünsche mir, dass die heterosexuellen Leser ebenso selbstverständlich die Liebesgeschichte zweier Männer lesen, wie homosexuelle Leser seit Jahrhunderten zum Beispiel "Romeo und Julia" lesen. In der Literatur zum Beispiel der USA wird diese Trennung inzwischen schon viel weniger gemacht.

Talawas: Kann man oder soll man von einer homosexuellen Literatur sprechen? Gibt es eine solche in Deutschland?

Michael Sollorz: Ich glaube, es gibt nur gute und schlechte Literatur. Es gab immer und gibt homosexuelle Autoren, die ihre Art zu lieben in ihren Werken niemals zum Thema gemacht haben. Ebenso gab und gibt es eine Reihe bedeutender und berühmter homosexueller Autoren – wie André Gide oder Thomas Mann – die Homosexualität zum Thema gemacht haben. In Deutschland und Österreich gibt es eine Anzahl von anerkannten homosexuellen Autoren, deren Bücher bei führenden Großverlagen erscheinen und deren homosexuelle Sujets sehr wohl auch von einem größeren heterosexuellen Publikum beachtet werden. Die Mehrzahl der homosexuellen Autoren, die auch über Homosexualität schreiben, tut dies allerdings bei dem halben Dutzend Verlage, die sich auf homosexuelle Themen spezialisiert haben, auch im Bereich der Wissenschaft, der Geschichte, und diese Verlage bedienen gezielt das spezielle Marktsegment der homosexuellen Leserinnen und Leser – rein rechnerisch sind das ja allein in Deutschland auch an die acht Millionen, eine große Gruppe also.

Talawas: Besteht für sie eine Gefahr der Selbstabgrenzung? Die Gefahr, daß sie sich in ihrer Selbstbehauptung, ihrem Sonderstatus, verliert?

Michael Sollorz: Gute, literarisch anspruchsvolle Bücher führen auf dem Büchermarkt fast immer ein abgegrenztes Schattendasein, egal welchen Inhalten sie sich zuwenden. Sobald ein großes Talent – egal ob hetero- oder homosexuell – sein Schreiben über den persönlichen Kummer hinaus der Welt zuwendet, dem Allgemeingültigen, das zu allen Menschen spricht, endet die Selbstabgrenzung. Es ist auch eine Frage der Zeit. Irgendwann werden die Unterschiede in der Wahrnehmung sexueller Präferenzen verschwinden, dann wird gute Literatur nur noch als Literatur über die Menschen und das Leben wahrgenommen werden. Die Frage an den Autor wird nicht mehr sein, mit wem schläft er, sondern: Was hat er mir mitzuteilen?

Talawas: Anders sein, fürs künstlerische Schaffen ist es zumindest in den westlichen Gesellschaften heute sowohl Standardvoraussetzung als auch oft Zweck. Wie empfinden Sie Ihr Anderssein?

Michael Sollorz: Das Gefühl, anders zu sein, besucht mich heute eigentlich kaum noch. Vielleicht denken manche Leute noch über mich, ich wäre anders, aber da täuschen sie sich wohl. Anderssein nehme ich eher verstandesmäßig wahr. Zum Beispiel, wenn ich meine Privilegien anschaue. Das Privileg, aus der Tätigkeit, die mir immer das Wichtigste war, meinen Beruf gemacht zu haben. Das Privileg körperlicher Unversehrtheit. Das Privileg, in einer Region der Welt zu leben, wo kein Krieg ist und alle satt werden. Nur einmal diese drei Privilegien betrachtet, unterscheidet sich mein Leben zutiefst von der Mehrzahl der Menschen auf der ganzen Welt, gehöre ich einer kleinen Minderheit an. Das mache ich mir jeden Morgen wieder klar und versuche, dankbar dafür zu sein. Was das angebliche Anderssein als Homosexueller betrifft, muss ich sagen, dass ich es selbst nicht mehr wahrnehme. Das liegt natürlich auch an Berlin, eine große, tolerante Stadt, in der ich keinen Anfeindungen mehr ausgesetzt bin, ebenso wenig in meinem Freundeskreis, der durchaus eine große Familie ist, und auch nicht in meiner Arbeit, im Milieu von Verlagen und Redaktionen – im Kulturbetrieb ist Homosexualität schon sehr lange keine Besonderheit mehr.
Aber Sie bringen mich da auf etwas. Es gibt tatsächlich noch einen Aspekt, wo ich mich anders behandelt fühle. Bestimmte große, bürgerliche Zeitungen in Deutschland tun sich schwer, meine Bücher zur Kenntnis zu nehmen. Das geht auch anderen offen schwul arbeitenden Autoren so. Mein Wunsch, in erster Linie als Produzent guter Literatur ernst genommen zu werden, würde sich sicher stärker erfüllen, wenn ich über die Liebe zwischen Frauen und Männern schriebe. Insofern bewahrheitet es sich wieder: Das Anderssein ist vor allem eine Erfindung der Anderen.

Talawas: Welche homosexuellen Schrifsteller bewundern Sie?

Michael Sollorz: Schwere Frage, es gibt so viele! Als jüngerer Leser habe ich die Bücher von James Baldwin geliebt. Noch heute faszinieren mich die Dramen von Tennessee Williams.

Talawas: Was beschäftigt Sie am meisten in ihren Werken?

Michael Sollorz: Baldwin, als Schwarzer und Schwuler in den USA, hat sich immer doppelt ausgegrenzt gefühlt und deswegen auch die zweite Hälfte seines Lebens zumeist im toleranteren Europa gelebt. Die Rassenfrage und die Schwulenfrage haben ja vieles gemeinsam. Diese Erfahrung von Ausgrenzung hat bei ihm eine enorme künstlerische Sensibilität befördert. Dazu kommt, dass er ein zutiefst religiöser Mensch war, der mit Demut und Güte auf das vielgestaltige Leben schaute und immer versucht hat, im Menschen gegenüber den Bruder zu erkennen, für den er Verantwortung trägt. Seine Bücher sind von einer unvergleichlichen Wärme und Traurigkeit erfüllt, das Gegenteil so vieler witziger Zyniker.
An Tennessee Williams schätze ich den scharfen, psychologischen Blick. Mit geringen Mitteln brachte er die Höllenqualen menschlichen Lebens auf die Bühne, die Gier, die Einsamkeit, die Liebe, Sucht und Altern und Tod, und dabei vergaß er nie, im Hintergrund die wichtigen sozialen Fragen transparent zu erhalten, also: wer hat das Geld, wer hat die Macht.

Talawas: Sie sind Vater einer inzwischen fast erwachsenen Tochter. Wurde Ihre Homosexualität erst während einer Beziehung zum anderen Geschlecht bestätigt?

Michael Sollorz: Ja, meine Tochter wird dieses Jahr 19, sie macht gerade ihr Abitur. Als ich fünfzehn war, fing ich an, mit Jungs und Mädchen zu schlafen, das lief ein paar Jahre parallel, ohne dass ich gezwungen gewesen wäre, mich für eine Seite zu entscheiden. Erst als ich, inzwischen Anfang 20, in einer festen Beziehung mit der Mutter meiner Tochter lebte, wurde mir bewusst, dass ich von Männern stärker angezogen war. Ich liebte diese Frau, wollte mit ihr eine Familie gründen, und wir entschieden uns für das Kind. Als ich aber merkte, dass ich, wenn ich mit der Frau schlief, dabei an Männer dachte, habe ich diesen Zustand der Lüge beendet und die Frau und das Kind verlassen. Im Hinterund wirkten auch noch andere Kräfte. Ich hatte bis dahin zwei Berufe, Dachdecker und Zootierpfleger, und stand kurz vor meiner Einberufung zur Armee. Mir war klar, dass ich nach der Armee in keinem Betrieb mehr arbeiten, sondern als Schriftsteller leben wollte. Insofern war die Trennung nur ein Teil radikaler Veränderungen. Ich musste allein sein, um herauszufinden, was ich kann und wer ich bin. Es war für die Frau sehr verletzend, und es gab abgesehen von meinen Unterhaltszahlungen ein paar Jahre keinen Kontakt. Inzwischen herrscht wieder Frieden und wir treffen uns regelmäßig, vor allem meine Tochter und ich.

Talawas: Basieren schwule Partnerschaften auf etwa den gleichen Werten wie bei der heterosexuellen Ehe, oder machen sich da andere Faktoren bemerkbar?

Michael Sollorz: Viele Schwule, die ich kenne, leben allein. Das hat seine Vorteile, zum Beispiel, dass man niemandem die Treue schwören muss und seine sexuellen Freiheiten genießen kann, was gerade für die Bewohner von Großstädten sehr reizvoll ist. Allerdings bemerke ich auch bei denen, die sagen, dass sie gerne alleine leben, eine starke Sehnsucht nach einem Partner. Anders als bei den heterosexuellen Ehen, wo zumeist ja gemeinsame Kinder und deren Aufzucht das Zusammenbleiben fördern, beruhen schwule Partnerschaften und ihre Dauer in stärkerem Maße auf freien Willen. Ich persönlich bin eher ein anhänglicher Mensch und neige zu längeren Beziehungen. Der letzte Mann, den ich liebte, hat 8 Jahre mit mir zusammengewohnt. Wir haben uns getrennt und sind heute sehr gute Freunde. Meinen jetzigen Partner kenne ich fast sechs Jahre. Sein Anblick entzückt mich noch wie am ersten Tag, vielleicht inzwischen sogar noch mehr. Manchmal glaube ich, dass er die große Liebe meines Lebens ist. Wir haben von Anfang an versucht, unsere Beziehung auf Werte wie Geborgenheit, Kreativität, Zuverlässigkeit und Achtung zu bauen, nicht auf das Siegel sexueller Treue. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die sexuellen Interessen sich kaum für längere Zeit ausschließlich auf ein und denselben Menschen fixieren lassen. Diese Erfahrung kennen auch andere, zum Beispiel sind wir befreundet mit einem alten Paar, das seit 40 Jahren zusammenlebt, die beiden Männer halten es ebenso wie wir. Ich hasse Lüge und Heuchelei. Jeder ist frei, mit anderen zu schlafen, vorausgesetzt, er belügt den Partner nicht und achtet beim Sex mit anderen auf die Ansteckungsgefahr mit sexuell übertragbaren Krankheiten.

Talawas: Ihre Coming Out geschah noch in der ehemaligen DDR, in der Homosexualität nicht gerade willkommen war. Was haben Sie konkret getan? Und die Folgen?

Michael Sollorz: Tatsächlich hat die Öffentlichkeit in der DDR das Thema sehr lange totgeschwiegen, bis in die 80er Jahre hinein, und das empfand ich als zutiefst unwürdig für ein sozialistisches Land, zu dessen Credo die große Menschengemeinschaft gehörte, die keinen ausschloss. In den 80er Jahren hat sich dann auf vielen Ebenen gleichzeitig einiges bewegt. Zum Beispiel gründeten sich in den größeren Städten unterm Dach der evangelischen Studentengemeinden homosexuelle Arbeitskreise, in denen sich Schwule und Lesben trafen, um miteinander über ihre Situation zu sprechen. Dieses Sprechen ist, wenn man sich allein und isoliert fühlt, schon ein wichtiger erster Schritt. So war das auch für mich. Dass diese Gruppen ausgerechnet unterm Dach der Kirche zusammenkamen, ist insofern ein historischer Witz, als die meisten Mitglieder und Besucher der Gruppen Atheisten gewesen sind oder sogar in der Partei, mit Religion also gar nichts im Sinne hatten, sondern nur einen Raum brauchten, um sich zu treffen. Der Staat, der diese Räume bis dahin nicht zur Verfügung stellen wollte, weil er befürchtete, die Gruppen würden antikommunistische Ziele verfolgen, hat diesen Irrtum später erkannt und nun ebenfalls neuen Gruppen Obdach geboten, etwa im Rahmen der Jugendorganisation der Partei, der FDJ. Das Misstrauen des Staates gegen diese Gruppen unterm Dach der Kirche äußerte sich zum Beispiel darin, dass das Ministerium für Staatsicherheit einzelne Mitglieder der Gruppen als Inoffizielle Mitarbeiter anwarb, um heimlich über die Arbeit Gruppen zu berichten. Das ist mir auch passiert, und was ich zu berichten hatte, war dann, wie gesagt, nicht das befürchtete Entstehen einer staatsfeindlichen Bewegung, sondern das Bedürfnis nach Austausch von Menschen, die sich missachtet und ins Dunkel gestellt fühlten. Gleichzeitig habe ich sowohl privat als auch beruflich meine Homosexualität nicht mehr verschwiegen. Die Reaktionen waren ausnahmslos positiv. Die Angst vor dem Schritt der Offenbarung ist oft groß gewesen, dann folgte die Erleichterung, oft auch echtes Interesse beim Gegenüber. Zum Beispiel arbeitete ich damals als freier Journalist beim Radio, und in der Redaktion führte mein Coming Out dazu, dass ich bald zuständig gemacht wurde, wenn es irgendwo irgendwas im Zusammenhang mit Homosexualität fürs Radio zu berichten gab, etwa ein Buch zu rezensieren oder eine Theateraufführung zu besuchen, Interviews zu machen. In den 80ern ist der Knoten des Schweigens in der Gesellschaft der DDR geplatzt.

Talawas: Was sind für Sie bisher die wichtigsten Errungenschaften der homosexuellen Bewegung?
Michael Sollorz: Bewegung heißt, dass Menschen miteinander ihre Interessen erkennen und öffentlich formulieren. Das schafft mit der Zeit ein Klima größerer Selbstverständlichkeit. In diesem Klima sind in den letzten 20 Jahren eine Vielzahl von Filmen und Büchern entstanden, Zeitungen und Gruppen gegründet worden. Nehmen wir nur den Bereich AIDS, die Katastrophe, die Anfang der 80er ihren Anfang nahm. Zum ersten Mal waren schwule Männer in ihrer Eigenschaft als Hauptrisikogruppe für den Staat wichtige Ansprechpartner, weil sie am ehesten geeignet schienen, innerhalb ihrer Gemeinschaft eine professionelle Präventionsarbeit zu organisieren, die Leute zu erreichen und aufzuklären. Es floss viel staatliches Geld in homosexuelle Projekte und Selbsthilfeorganisationen, und es wurde im Zuge der Präventionsarbeit auch viel öffentlicher und deutlicher als zuvor über Lebensweisen und Sexualität gesprochen, auch in den Zeitungen, im Fernsehen. Das Klima hat außerdem dazu geführt, dass eine große Zahl Prominenter, bisher heimlicher Homosexueller in Kunst und Politik selbstbewusst an die Öffentlichkeit getreten sind, zuletzt etwa der Regierende Bürgermeister Berlins.
So ein Klima hilft auch und gerade den jungen Leuten, wenn sie anfangen, sich zu entdecken, zu entdecken, dass sie schwul oder lesbisch sind. Sie fühlen sich heute nicht mehr so allein – es gibt einfach inzwischen eine große, bunte Vielfalt von öffentlicher Sichtbarkeit homosexuellen Lebens.

Talawas: Bei Ihrem Besuch in Südvietnam vor zwei Jahren haben Sie unsere Gesellschaft kennengelernt, in der niemand öffentlich über Homosexualität spricht, obwohl in den Großstädten sich die ersten größeren schwulen Treffpunkte langsam herausbilden, inzwischen existiert sogar eine sehr gut besuchte website der vietnamesischen Gays. Was sind aus Ihrer Sicht die Parallele und Unterschiede zur Situation in der ehemaligen DDR?

Michael Sollorz: Das Schweigen hat mich sehr an die DDR erinnert, der große Kummer, den es Homosexuellen bereitet, sich zu verstecken. Discos und Kneipen – sehr vergleichbar, nur waren die schwulen Bars in Ostberlin im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen nicht so überteuert und wurden nicht von so vielen westlichen Touristen besucht. Ein wichtiger Unterschied scheint mir aber die ungleich größere Bedeutung, die die Familie in Vietnam hat, die Achtung und der Gehorsam gegenüber den Eltern, die Erwartung, selbst Kinder zu haben. Das war in der DDR nicht mehr so stark ausgeprägt. In Saigon fragte ich einen jungen Schwulen, warum er seinen Eltern nicht sagt, dass er Männer liebt. Er antwortete: „Ich will ihnen keinen Kummer machen.“ Diese Antwort aus Rücksicht und Respekt hätte ich damals in der DDR kaum noch zu hören bekommen. Da lag der westliche Egoismus schon näher. Die jungen Leute waren wohl eher in der Lage, Ungehorsam auszubilden und ihre eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen. Das hat alles Vor- und Nachteile. Das enge Zusammenhalten von Familien finde ich zunächst etwas sehr schönes, wenn es denn in der Konsequenz dazu führen könnte, dass zum Beispiel eine junge Frau, die unter Tränen ihren Eltern offenbart, dass sie Frauen liebt, auf Verständnis stößt und gesagt bekommt: Egal wie, du bist und bleibst unsere Tochter. Das wäre schön. Geborgenheit, auch wenn jemand von den Vorstellungen abweicht. Wie viele junge Menschen auf der Welt wären glücklich geworden, hätten sich nicht das Leben genommen, wenn es diese Geborgenheit gäbe. Ein anderer Unterschied ist die Wohnungssituation. Ich hatte mit 20 meine erste eigene kleine Wohnung – da war es natürlich leichter, ungestört zu leben. Und die Mobilität; ich vermute, vielen jungen Homosexuellen in den kleinen Dörfern der DDR ist es vergleichsweise ökonomisch leichter gefallen, wegzuziehen in die schützende Anonymität größerer Städte wie Berlin oder Leipzig. Also eine Frage des Wohlstandsgefälles.

Talawas: Selbst in den westlichen Gesellschaften mit ihrer Aufklärungsgeschichte, ihrer grundgesetzdefinierten und weitgehend auch kultivierten Offenheit ist man noch lange nicht wirklich bereit, den Nächsten zu lieben, wenn er homosexuell ist. Wie sehen Sie die Chance für die homosexuelle Bewegung in der vietnamesischen Gesellschaft, in der nicht nur verschiedene, immer noch staatstragende Traditionen eine solche Chance schwer ermöglichen, sondern auch fast sämtliche Mittel zur Herausbildung und Stärkung einer homosexuellen Bewegung fehlen? Was ist unbedingt wichtig für sie?

Michael Sollorz: Das steht mir eigentlich nicht zu, darüber zu urteilen, und wenn ich es trotzdem tue, wird es vermutlich vor allem zeigen, wie unzureichend meine Kenntnis der vietnamesischen Gesellschaft heute noch ist. Es fällt mir schwer, solche Aussagen zu treffen, und ich will mich auf wenige Aspekte beschränken. Unbedingt wichtig finde ich die Frage der Öffentlichkeit. Wann immer mir zum Beispiel Freunde Artikel mit homosexuellen Themen aus vietnamesischen Zeitungen übersetzten, fand ich darin die Homosexualität im Zusammenhang mit Dunkelzonen genannt, mit AIDS, Prostitution, Krankheit. Entspricht diese Berichterstattung dem heutigen Wissenstand der Journalisten, der Soziologen, der Sexualwissenschaftler? Gibt es andere Meinungen, weiter reichende Erkenntnisse? Wenn ja, wer hat sie? Und auf welchem Wege, über welche redaktionellen Kanäle könnten diese Erkenntnisse in Zeitungen, Büchern, Radio und Fernsehen öffentlich werden? Ich kann und will nicht glauben, dass alle Vietnamesen, die, wie Sie das gerade tun, nachdenkliche Neugier zeigen, im Ausland leben. In der DDR, erinnere ich mich, erschien 1988 ein Buch, worin der Autor vierzehn schwule Männer verschiedenen Alters und Berufs nach ihrem Alltagsleben fragte, ihren Träumen und Erlebnissen. Das Buch war ein enormer Verkaufserfolg und hat den Homosexuellen ungeheuer Mut gemacht und geholfen, sich als gesunde, vollwertige Bürger ihres Landes zu begreifen. Zu der Zeit haben ja zig Tausende DDR-Bürger ihr Land verlassen, auch viele Homosexuelle, und zwar nicht nur aus ökonomischen Gründen, und mir schien dieses Buch 1988 ein kleiner Beitrag zu sein, die Heimat zu einem Ort zu machen, an dem alle gerne leben wollen. Wer versammelt heutige Erfahrungen homosexueller Vietnamesen in einem Band, und welcher Verlag würde den Band herausbringen, am besten natürlich in Vietnam, wo dann auch die Zeitungen sich mit der Wirklichkeit, die die Berichte spiegeln, beschäftigen können? Interviews, wie Sie es gerade mit mir führen, sind ja eine sehr geeignete Form, der Lebenswirklichkeit von Menschen nahe zu kommen. Ebenso waren Bücher aus anderen Ländern in Übersetzung in der DDR damals von unschätzbarem Wert. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes. Ich bin überzeugt, dass es im Ausland Verlage gibt, die aus Solidarität mit den Homosexuellen in Vietnam bei einer Veröffentlichung in Vietnam auf eine Lizenzgebühr verzichten würden.
Aus meiner vorhin geschilderten Erfahrung vermute ich, dass der vietnamesische Staat jede Bestrebung, eine Öffentlichkeit für Fragen der Homosexualität herzustellen, zunächst mit Argwohn betrachten wird. Dafür gibt es keine vernünftigen Gründe. Es scheint mir wichtig, dieses Misstrauen zu zerstreuen, miteinander ins Gespräch zu kommen, ins Gespräch darüber, dass eben auch die Millionen Homosexuellen in Vietnam zu den Landeskindern zählen, die einen Anspruch auf Fürsorge und Unterstützung durch die sozialistische Gesellschaft haben. Gibt es kompetente Einzelpersonen, die dieses Gespräch auf staatlicher Ebene suchen könnten, zum Beispiel beim Frauenverband, bei den Künstlerverbänden? Jede Bewegung ist ja am Anfang eine Sache von Einzelpersonen, die sich Verbündete suchen und den Mut haben, ihr Gesicht zu zeigen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Mit dem Sprechen fängt alles an. Auch über die Ängste und Vorurteile im eigenen Kopf.

Talawas: Michael Sollorz, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Michael Sollorz, 1962, lebt in Berlin, u.a. erschienen von ihm: „Abel und Joe“, „Orakel“, „Deutscher Meister im Seitensprung“, „Benjamin´s Tagebuch“.