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31.5.2002
Kai Strittmatter
Das Milu-Prinzip
Der Freak Bora Milutinovic führte China zur WM - und weit darüber hinaus
 
Velibor vorn, Milutinovic hinten. Das ist sein Name. Merk dir: „B- O-R-A!“ So viel ist sicher, alles andere nicht. Bora sagt: „Nix tu ich. Nix ist besonders. Alles ist besonders."

Wie willst du das erklären? So bin ich. Die Leute sagen: Der Typ ist nicht normal. Aber so bin ich. Bora.“ Die Leute sagen, Bora sei ein Betrüger, ein Gaukler, ein Clown. Die Leute sagen, Bora sei ein Magier, ein Heiler, ein Messias. Bora sagt: „Puta madre! Was für ein Kaffee!“ Südlich der Wolken, im tiefsten Yunnan, da, wo man schon fast nach Burma hinüberlugen kann.

Bora, der Tramp, Bora, der Zigeuner. Dem das Glück zwischen den Stollen klebt, da kann er noch so weit laufen. im Jahr 1994, Bora hatte gerade wieder einmal die Lahmen gehend, die Blinden sehend und einen Haufen Fußballpygmäen – diesmal die Amerikaner – zur neuen Fußballüberraschung gemacht, da sagte einer seiner Spieler diesen Satz: „irgendwann wird Bora den Mond trainieren. Und der Mond wird sich dann wahrscheinlich für die WM qualifizieren.“ Er hat es getan: Bora hat China zur Fußballnation gemacht.

Eins zu Null gegen Oman!

China. Shenyang. Das „Fünf-Meilen-Fluss-Stadion“. Am 7. Oktober 2001 um 21 Uhr 43 und 40 Sekunden bleibt in China die Zeit stehen. Unglauben weitet die Augen eines Trainers namens Milu, ein Verteidiger namens Fan Zhiyi fällt mit stummem Schluchzen in sich zusammen, ein anderer Verteidiger namens Li Weifeng rennt über den Platz und brüllt wie eine Sau nicht brüllen kann, die gerade abgestochen wird: als ersticke er, als gebäre er, ein Brüllen aus urzeitlichen Tiefen, eine Katharsis. Am 7. Oktober 2001 kommt in Shenyang ein Land ein zweites Mal zur Welt, als Fußballnation: Eins zu Null gegen Oman. China darf zur Weltmeisterschaft. 1:0. China. in der WM. Zum ersten Mal, seitdem die Kommunisten die befreiten Massen in internationale Stadien schickten, vor 44 Jahren. Zum ersten Mal, seitdem China der Fifa beitrat, vor sieben Jahrzehnten.

Braucht er sich nicht wundern, der Trainer, wenn die Verehrung nun ins Religiöse kippt: „Milu hat uns ins Gelobte Land geführt“, schreibt Xinhua, die staatliche Nachrichtenagentur, die solche Anbetung normalerweise für Mao Zedong selig reserviert, ein Schwimmer übrigens, dieser Mao, kein Fußballer. Milu ist Bora, Bora ist Milu. Spricht sich leichter auf Chinesisch. Kein Schwimmer, dieser Milu, aber auch ein Revolutionär. „Hättet ihr mich halt 44 Jahre früher gerufen“, sagt er.

Gerade ist das Flugzeug in Kunming gelandet, und Bora hat vor dem Aussteigen die Ovationen der anderen Passagiere entgegengenommen, nonchalant lächelnd, sich verbeugend. Nun sitzt er im Fond einer schwarzen Limousine, die ihn durch die Reisfelder Südwestchinas trägt, zum Trainingslager.

„Puta Madre!“, dieses Mal ist es, Hurenmutter hin oder her, ein versonnener Fluch. Bora, der Serbe, flucht stets auf Spanisch, denn seine Heimat seit mehr als 30 Jahren ist Mexiko. So ihm das Wort „Heimat“ überhaupt etwas bedeutet. „Puta Madre... 1,3 Milliarden Menschen!“ Er schüttelt den Kopf und boxt mich in den Schenkel. 500 Millionen davon haben vor dem Fernseher gesessen bei dem entscheidenden Spiel in Shenyang. Haben mit ihm die Arme hochgerissen. So was hat auch Bora noch nicht erlebt.

Vor fast einem Jahrzehnt attestierte die Süddeutsche Zeitung Bora Milutinovic, seine „verrückte Weltenbummler-Geschichte“ reiche für drei Leben. Nun, ein paar Leben später, hat Bora einen Weltrekord aufgestellt: Zum fünften Mal hintereinander ist er bei einer WM dabei – und jedesmal trainierte er ein anderes Land. Vor China waren es Mexiko, Costa Rica, die USA und Nigeria. Dass er bislang nach jeder WM umgehend wieder gefeuert wurde, hat seinem Ruf als „einer der letzten Paradiesvögel“ (Kicker) eher genützt. Von den Mexikanern bekam er den „Orden des Aztekenadlers“ an die Brust geheftet, von den Nigerianern böse Verwünschungen nachgerufen („Schlimmster aller Trainer“).

Bora hat schon alles gesehen. Aber so etwas wie China noch nicht. „Costa Rica“, sagt Bora, „hat drei Millionen Einwohner.“ Mit China gemeinsam hat Costa Rica dies: Es war ein Fußball- Entwicklungsland. Ein Himmelfahrtskommando. Ein Fall für Bora.

China war seine größte Herausforderung. Sagt er. Die Krönung seines Zigeunerlebens. Das größte Volk der Erde. Das zudem den Fußball erfunden hat, zwei Jahrhunderte vor Christus, schon damals war es ein Ball aus Leder, so steht es wenigstens auf der Homepage der Fifa. irgendwann aber kam den Erfindern der rechte Umgang mit dem Ding abhanden, von da an machten sie ihre Nation leiden.

Chinas Stadien wurden zum Schauplatz schmerzlicher Demütigungen – aber der Enthusiasmus der chinesischen Fans wurde deshalb nicht kleiner, im Gegenteil: Er wuchs sich aus zu einer Leidenschaft von tragischer Größe, zu einem Monster von mal stummer Melancholie, mal herzzerreißender Agonie. Jede Träne für den Fußball eine Träne für die Nation. Die Chinesen gewannen im Pingpong und im Volleyball; sie schwammen, sie sprangen und sie rannten zu Gold – den Massen war es irgendwie egal, sie weinten stets mit ihren Fußballern.

Es gibt in Peking ein Restaurant, da kann man die „Tränen von Seoul“ bestellen, das sind kalte Entenfüße in scharfem Senf, benannt nach einer vernichtenden Niederlage gegen den Angstgegner Südkorea. Wer in den letzten Jahren chinesische Fans sah, wie sie sich bei einem Spiel ihrer Nationalmannschaft an die Zäune klammerten, die Gesichter an die Gitter pressend, darin eingegraben die Züge von Angst und Verzweiflung, nur in kurzen Momenten das Aufflackern eines letztes Flehens, wider alle Vernunft, dann wieder Elend und Zorn, der fühlte sich mehr an Bilder von Flüchtlingslagern erinnert als an ein Fußballspiel. Bis der Tag von Shenyang kam, und Chinas Staatsfernsehen feierlich eine Offenbarung verkündete: „Endlich! Fußball macht Spaß!“

Da dämmerte Bora, dass er wirklich gewonnen hatte. Bora, der Spaßmacher, über den seine Biografin und beste chinesische Freundin Lily Li sagt: „Das wahre Wunder ist, dass Bora in China überlebt hat.“

China und Bora: Zwei so weit auseinander wie Nordpol und Südpol. Was sind sie nicht im vergangenen Jahr über ihn hergefallen, haben ihn attackiert, sich über ihn lustig gemacht, die Nase gerümpft: die Medien, die Funktionäre, die Fans, die Spieler. Da hatte sich die Mannschaft gerade mal wieder in ein paar Freundschaftsspielen blamiert, und alle dachten, sie hätten den Kaiser ohne Kleider erwischt. Es sah nicht gut aus für Bora, den Einkauf in der letzten Minute, der den Chinesen vor allem eines beibringen wollte: „Happy soccer“ – fröhlichen Fußball.

Wie weit der Spaßfußballer Milutinovic und der todtraurige, todernste Fußballplanet China voneinander entfernt waren, zeigte sich in jener Pressekonferenz, in der er sich von einem zutiefst empörten Reporter fragen lassen musste: „Denken Sie eigentlich, Fußball sei ein Spiel?“

Fußball nämlich hat in China zu sein: ein Symbol für das Ringen einer Nation um Anerkennung, um einen Platz in der Welt – was jeden Steilpass zum patriotischen Akt macht. Eher unfreiwillig ist es ein Spiegel der Gesellschaft, mit ihrem Fortschritt, ihren Brüchen und Auswüchsen. Wo Journalisten den Wettbewerb und die Demokratie proben und einfache Fans die herrschenden Funktionäre anpinkeln, wo immer mehr Geld fließt, jeder jeden betrügt und alles käuflich zu sein scheint.

Jetzt gehen wir schwimmen!

Bora aber lächelte wie er seit Anbeginn der Zeit lächelt, fragte in die Runde, ob außer ihm vielleicht noch jemand 271 Länderspiele und vier WM- Teilnahmen aufweisen könne, ließ im Training weiter Fußball-Tennis spielen, bestellte die Mannschaft frühmorgens zum Dauerlauf und fuhr mit ihr stattdessen zum Baden ans Meer. „Viele dachten: Der verarscht uns“, erinnert sich Peng Hongjun, ein Dokumentarfilmer, der das Team ein halbes Jahr lang begleitete.

Auch mancher Spieler war irritiert. „Da kommt hier einer an, allein mit seinem Bündel. Das soll ein großer Trainer sein?“, griff Stürmerstar Hao Haidong ihn in aller Öffentlichkeit an. „Lässt uns im Training ein wenig Tennis spielen, hat keinen Plan – was soll der Quatsch?“, fragte Hao und offenbarte den Zusammenprall zweier Welten: „Gib’ uns Disziplin!“, forderte er Bora auf. Viele flüchteten sich in die alten Abwehrreflexe: Der versteht China nicht, unsere alte Kultur, unsere Mentalität...

Sie prophezeiten, Bora werde so scheitern, wie es Ausländern in China einfach vorbestimmt sei, sie erinnerten an die traurigen Trainer-Gastspiele des Deutschen Klaus Schlappner (1992–95) und des Engländers Bobby Houghton (1988–99). „Viele Ausländer kamen voller Selbstvertrauen“, sagt Lily Li, „und gingen als Zombies.“ Keiner der Spieler ahnte, dass Bora sie in Wirklichkeit besser verstand als sie sich selbst, als er sich vor laufenden Kameras seine mittlerweile berühmte Kappe aufsetzte. „Haltung“, steht auf der Kappe, „Haltung ist alles.“

Twist and shout!

Bora Milutinovic ist Serbe, mit 26 Jahren verließ er seine Heimat Jugoslawien, zog als Abwehrlegionär quer durch Europa und landete schließlich in Mexiko, wo er die Tochter eines Millionärs heiratete und mit ihr ein wunderschönes Mädchen zeugte. Es gibt eine Theorie, die besagt, dass viele Menschen sich zurecht machen nach der besten Zeit ihres Lebens: Auf dem Schädel Boras wuchert eine Frisur, als sei er der verloren gegangene fünfte Beatle.

Mehr noch als die Frisur des 61-Jährigen beeindruckt sein Sprachtalent: Bora spreche, hat einer mal geschrieben, ein halbes Dutzend Sprachen, die der Menschheit bekannt sind, und noch ein paar weitere, die nur er selbst versteht. Chinesisch gehört nicht dazu. Das ärgert ihn: Die Verständigung über den Dolmetscher ist mühsam, manchmal kostet sieauf dem Spielfeld die entscheidende Sekunde. „Verstehen sie mich?“, fragt sich Bora beim Blick auf seine Spieler, und antwortet gleich selbst: „Keine Ahnung. Hauptsache, sie spielen so, als verstünden sie mich.“ Was also bedeutet „Happy soccer“ auf Chinesisch? Ganz einfach, sagt Biografin Lily Li: Schlepp dich gefälligst nicht über den Platz wie ein alter Wasserbüffel unter der Last seines Joches! Womit übrigens die chinesische Nationalmannschaft v.B. (vor Bora) ziemlich akkurat beschrieben wäre.

Vor Bora nämlich war es so: „Wir hatten einen Heidenrespekt vor unseren Trainern, richtig Angst.“ Jiang Jin erzählt das, der Hüne und Torwart, einer der Helden der Qualifikation: „Sie waren dogmatisch und konservativ, die Stimmung war bedrückend.“ Wenn in China der Trainer sprach, hatten die Spieler stumm zu sein. Wie die meisten anderen Spieler auch, fiel Jiang Jin staatlichen Talentsuchern auf, als er zwölf war, und wurde auf eine Sportschule geschickt.

Dort wird den Kindern alles abgenommen, Denken inklusive. Sie werden gedrillt. Technisch und konditionell konnten Chinas Fußballer schon lange mit ihren Kollegen in Europa mithalten. Auf dem Platz aber, wenn es ernst wurde, da verwandelten sie sich stets in eine Schar flatternder Seelchen: unfähig zum Zusammenspiel, Nervenbündel auf der Flucht vor dem Ball. Ein trostloser Anblick, ein freudloses Brot. Und dann kommt da einer, mit wehendem Haar und mexikanischen Flüchen, braun gebrannt von südlicher Sonne und erzählt etwas vom „fröhlichen Fußball“.

Entspannt euch!

„Wir haben ihn schlicht nicht verstanden“, sagt Jiang Jin. Sie haben ihn sogar gehasst am Anfang: Der neue Trainer fing plötzlich an, ihnen Fragen zu stellen, denen er auffordernde Blicke hinterher sandte, Blicke, vor denen sie panisch in Deckung gingen. Sie, die ein Leben lang nur Zuhören durften, sollten plötzlich Antworten geben? Ein ganzes Jahr habe es gedauert, sagt Torwart Jiang: „Dann ist der Groschen gefallen.“ Laotou, der „Alte“, wie sie ihn nennen, hat den Druck von ihnen genommen. „Entspannt euch, dann geht alles von selbst“, predigt Bora. „Er hat uns Selbstvertrauen gegeben“, sagt Verteidiger Li Weifeng. Sie merkten, dass der Gaukler in Wirklichkeit ein harter Arbeiter war, der sie bald nervte mit seinem Blick für die kleinsten Fehler. Und am Ende, gerade noch rechtzeitig, machte er ein Team aus ihnen – was gewiss nicht die einfachste Aufgabe war. „Sind Chinesen geduldig?“, wirft Bora provozierend gängige China-Klischees über den Kaffeetisch: „Sind sie tatsächlich Kollektiv-Wesen?“

Bora macht sonst gern viele Worte, ohne das Geringste zu sagen. Jetzt aber schweigt er und verrät so alles. Ein Chinese allein ist ein Drache, sagt das Sprichwort – zehn Chinesen zusammen sind ein Haufen Flöhe: Alle für sich, einer gegen den andern. Einen Hollywood-Film hat er ihnen vorgespielt, wieder und wieder, „Remember The Titans“, einen Highschool-Football -Schinken mit Denzel Washington, und ihnen dann die Botschaft eingehämmert: ihr müsst euch nicht in den Armen liegen – aber Respekt voreinander, den müsst ihr haben. „Wir haben uns völlig verwandelt“, sagt Torwart Jiang Jin: „Wir haben nun eigene ideen und Gedanken und sprechen sie auch aus. Wir diskutieren. Wir haben Spaß – und wir spielen besser.“ Verteidiger Li Weifeng ist kaum zu bremsen: „Milu hat nicht nur unsere Einstellung zum Fußball verändert, sondern auch die zum Leben!“ Milu ist ein Freund, urteilen beide Spieler wie befreit, kein Zuchtmeister mehr.

Am Schluss applaudierte sogar die Volkszeitung, auf ihre Weise: „Milutinovic“, lobte das Parteiblatt erfreut, „hat unter den Spielern erfolgreich ideologische Arbeit geleistet.“ Ein Hoch also auf Boras Umerziehungslager. Das haben viele im chinesischen Fußball noch nicht kapiert: dass genau hier der vermaledeite Knoten sitzt. Dass der Ball in China nicht nur rund, sondern vor allem patriotisch zu sein hat. Noch einmal die Volkszeitung, ein paar Zeilen weiter: „Wenn ein Land und eine Nation den Kampfgeist verliert, dann riskiert sie Unterwerfung und Völkermord. Wenn eine Fußballmannschaft den Mut zum Kampf verliert, läuft sie Gefahr, unbarmherzig ausgelöscht zu werden.“ Nicht zu beneiden, die Spieler, die nach solcher Lektüre auf den Platz geschickt werden. Dokumentarfilmer Peng Hongjun macht die 150 Jahre Demütigung Chinas durch westliche Kolonialmächte für die ideologische Aufladung des Spiels verantwortlich.

Richtig kennen gelernt hat das lange abgeschottete Land den Weltfußball erst im Jahr 1982, als der Staatssender CCTV zum ersten Mal eine ganze Weltmeisterschaft ausstrahlte: „Die Chinesen haben sich damals zuerst in die WM-Trophäe verguckt“, glaubt Peng, „und erst danach in den Fußball.“

Rückblende. Vor der Qualifikation. im Sitzungsraum des Trainingslagers. Es spricht Yan Shiduo, der Vize-Chef des chinesischen Fußballverbandes. Ein seltener Blick hinter die Kulissen. Die Spieler aufgereiht wie Schulbuben in der ersten Bank. Gesenkte Köpfe, blasse Mienen. „Vergesst nicht“, hebt der Funktionär an. „ihr steht da draußen für den Ruhm unseres Landes, für den Geist unserer Nation!“

Yan lässt seinen stechenden Blick über die Spieler schweifen: „Noch nie haben wir es zu einer WM geschafft...“ Da sitzen sie, geduckt, in sich zusammengesunken, meiden jeden Augenkontakt. „ihr alle“, donnert er: „ihr alle solltet euch schuldig fühlen und keinen Frieden finden! ihr tragt die Verantwortung!“ Pause. „Wollt ihr, dass das Volk diesmal erneut heiße Tränen euretwegen vergießt?“ Der Staatsanwalt mustert die Angeklagten. Kein Wunder, meint draußen auf dem Vorplatz mitleidig Zhang Lu, ein aus der Provinz Jiangxi angereister Fan: „Chinas Spielern konntest du auf dem Platz bei jeder Ballannahme die Furcht vom Gesicht ablesen: ‚Oweh, jetzt ein Pass über die Mittellinie? Oder mache ich China damit Schande? Hilfe!‘“ Der Student seufzt. „Ein Jammer! Zum Fußball gehört einfach das Unbändige, Ungestüme – das hatten wir Chinesen nie. Erst Milu hat uns das gelehrt.“

Die Lagune! Wie schön!

Kein Wort zu verstehen kann von Vorteil sein. Bei der Standpauke des Fußball-Kaders zum Beispiel. Oder beim Spiel gegen Kambodscha, als sie 3:1 gewannen und Bora die Fans zehntausendfach seinen Namen rufen hörte. Er dachte, sie ließen ihn hochleben. in Wirklichkeit brüllten sie: „Milu, tritt ab!“ Sie wollten noch mehr Tore. Wie gut auch, dass Bora die Zeitungen nicht lesen kann. Noch vor einem halben Jahr schrieben sie ihn in Grund und Boden. Er macht es ihnen aber auch nicht einfach in seinen interviews.

Journalist: „Was ist der Plan für das Training morgen?“
Bora: „Plan? Welcher Plan? Haben wir Training morgen? Keine Ahnung.“ Bora grinst, unschuldig.

Oder damals auf den Malediven: Bora (mit weit ausholendem Arm): „Schaut euch den Mond an! Die Lagune! Wie schön!“ Ende der Pressekonferenz.

Es gibt in China mehr als 3000 Journalisten, die über nichts anderes schreiben als über Fußball. Die Konkurrenz ist gnadenlos, die Blätter müssen sich verkaufen, die Branche ist chaotisch und hochkommerziell. Und: „Es ist das Feld mit den größten Freiheiten im Land“, sagt Lily Li. Die Journalisten können schreiben, was sie denken, die Fans sich am Wochenende ihren Frust von der Seele brüllen. Nur im Stadion gibt es diese Freiheit in China. „Du kannst alle kritisieren“, sagt Li. „Der Fußballverband ist eben nicht die Regierung.“ Die Jagd auf Nachrichten ist hart, und Lily Li ist Schützenkönigin: Vor zwei Jahren war sie noch einfache Reporterin und hatte von Fußball nicht den blassesten Schimmer, mittlerweile ist sie Boras Beraterin. Von ihrer Milutinovic-Biografie wurden allein in den ersten zwei Monaten mehr als 200000 Exemplare verkauft, das Buch trägt wohl nicht ohne Absicht den vieldeutigen Titel „Null Distanz“.

„ich hätte sie umbringen können“, sagt Bora und zeigt auf das Umschlag foto: Bora und Lily nebeneinander auf einem einsamen Sandstrand. Dann lächelt er: „Smartes Mädchen.“ Sie hilft ihm durch den chinesischen intrigendschungel, er gibt ihr dafür Scoops. Smarter Trainer.

Lily Li ist die Einzige, die informationen gesteckt bekommt. Was die anderen Journalisten zum Wahnsinn treibt. Und nicht wenige Verlage zu verzweifelten Versuchen der Nachahmung – mittlerweile stellt ein ganzes Grüppchen von Notizblock-Groupies dem Trainer nach: Die eine lockt am Spielfeldrand mit lila Lippenstift, dazu passenden Lackstiefeln und fließendem Serbisch, die andere lauert ihm mit freiem Bauchnabel im Café auf: „Hallo Mr. Milu, i’m Susanna!“

Vergeblich. Bora spielt für Presse und Fans gern den Affen – aber er gibt nichts preis von sich. Nichts. Er nimmt mich mit in seiner Limousine, er bereitet mir mitten im Kanton-Restaurant – gerade hat er den Teller Hühnerkrallen zurückgehen lassen – eigenhändig jugoslawischen Tomaten-Gurken- Salat zu, er demütigt mich beim Bowling (mit mehr Kraft als Technik), er unterhält sich stundenlang mit mir, er ist charmant und sprüht und lacht – und als mich am Ende meiner Woche im Trainingslager einer der nach Neuigkeiten lechzenden chinesischen Kollegen fragt, ob Bora denn irgend etwas Wichtiges gesagt habe, da fällt mir nicht ein Satz ein. Nicht einer. „Ein Fuchs“, nannte ihn ein Shanghaier Kollege am Platzrand, „eine Schlange“ mein Fotograf. Anerkennend beide. Selbst seine Vertraute Lily Li sagt: „Je näher du ihm kommst, desto weniger verstehst du ihn. Er will nicht, dass man ihn versteht. Am Anfang hielt ich das für Arroganz, dabei ist er ein wunderbarer Mensch. Er tut alles für dich.“

Die Menschen in seiner Umgebung verdanken Bora mehr als nur Fröhlichkeit. Die wäre ihnen vermutlich auch nicht genug im neuen China, wo die gerade mal acht Jahre alte Profiliga offiziell „Pepsi-Liga“ heißt, wo Red Bull neben der Bank of China Bandenwerbung macht und wo mittlerweile diskret überreichte Geldumschläge den Schiedsrichtern die Hand zur Pfeife führen.

Torwart Jiang Jin macht nun Werbung für ein Lebermedikament, Verteidiger Li Weifeng hofft auf ein Angebot aus Europa, und Lily Li, Schreiberin mit Bora-Monopol, wechselte für eine Ablöse von schätzungsweise 1, 5 Millionen Yuan (ca. 200000 Euro) zu einer neuen Zeitung. Und das, frohlocken sie alle, ist erst der Anfang. Der größte Star aber ist Bora. Für Schnaps hält er nun seinen Haarschopf hin, für DVD-Spieler und für Klimaanlagen. Am 14. Mai haben sie eine übermannsgroße Statue enthüllt, in Shenyang, dem Ort des Triumphes: Ein verlegen grinsender Bora, über dem Herzen eine kleine chinesische Flagge, aus Bronze das alles.

Welch ein Vergnügen!

Mit Mao Zedong hat es auch einmal so angefangen, heute verbrennen Pilger überall in China vor Maostatuen Räucherstäbchen und beten um Gesundung oder einen Sohn. „Puta Madre...“, sagt Bora, selig ergriffen diesmal. „Welch ein Vergnügen. Welch ein eins-kom-ma-drei-mil-liar- den-faches Vergnügen!“ Die WM darf er nun noch mitmachen. Brasilien ist einer der Gegner. China wird Prügel kassieren. Dann feuern sie Milu wieder. Oder aber er geht von allein. „Das Leben ist kurz“, sagt Bora. „ich wandere gerne.“ Wohin als nächstes, Magier, Heiler, Messias: Zurück auf die Pferderanch zu Frau und Tochter?

„Puh“, sagt Bora und zuckt mit den Schultern. Oder aber auf neue Mission? An Müden, Armen und Beladenen mangelt es nicht in der Fußballwelt. Der Mann sagt mal wieder gar nichts und liefert doch ein schönes Zitat. Er, Bora, meide nur einen Platz: „Die Hölle.“ Er sagt das im Tonfall eines Mannes, der sich gerade im Himmel weiß. in Pekings U-Bahn hängen neue Plakate. „Elf Mann haben gespielt“, steht da. „1,3 Milliarden gewonnen.“ Einskommadreimilliardenundeiner. Puta Madre!

Nguồn: Süddeutsche Zeitung, 31.05.2002