Tư tưởngTriết há»cÄiểm nóngChÃnh trị thế giá»›i14.10.2001
Jürgen Habermas
Glaube, Wissen - Öffnung
Zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels:
Eine Dankrede (14.10.2001 in Frankfurt)
Wenn uns die bedrückende Aktualität des Tages die Wahl
des Themas sozusagen aus der Hand reißt, ist die Versuchung natürlich
groß, mit den John Waynes unter uns Intellektuellen um den schnellsten
Schuss aus der Hüfte zu konkurrieren. Noch vor kurzem schieden sich die
Geister an der Frage, ob und wie weit wir uns einer gentechnischen
Selbstinstrumentalisierung unterziehen oder gar das Ziel einer
Selbstoptimierung verfolgen sollen. Über die ersten Schritte auf diesem
Weg war zwischen den Wortführern der organisierten Wissenschaft und der
Kirchen ein Kampf der Glaubensmächte entbrannt. Die eine Seite befürchtete
Obskurantismus und eine wissenschaftsskeptische Einhegung archaischer
Gefühlsreste, die andere Seite wandte sich gegen den szientistischen
Fortschrittsglauben eines kruden Naturalismus, der die Moral untergräbt.
Aber am 11. September ist die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und
Religion auf eine ganz andere Weise explodiert. Die zum Selbstmord
entschlossenen Mörder, die zivile Verkehrsmaschinen zu lebenden Geschossen
umfunktioniert und gegen die kapitalistischen Zitadellen der westlichen
Zivilisation gelenkt haben, waren, wie wir ja aus Attas Testament wissen,
durch religiöse Überzeugungen motiviert. Für sie verkörperten die
Wahrzeichen der globalisierten Moderne den Großen Satan. Aber auch uns,
dem universalen Augenzeugen des „apokalyptischen“ Geschehens, drängten
sich am Fernsehschirm biblische Bilder auf. Und die Sprache der
Vergeltung, in der zunächst - ich sage: zunächst - der amerikanische
Präsident reagierte, erhielt einen alttestamentarischen Klang. Als hätte
das verblendete Attentat im Innersten der säkularen Gesellschaft eine
religiöse Saite in Schwingung versetzt, füllten sich überall die
Synagogen, Kirchen und Moscheen. Diese untergründige Korrespondenz hat die
zivilreligiöse Trauergemeinde im New Yorker Stadion vor drei Wochen nicht
zu einer symmetrischen Einstellung des Hasses verleitet.
Trotz
seiner religiösen Sprache ist der Fundamentalismus, wie wir wissen, ein
ausschließlich modernes Phänomen. An den islamischen Tätern fiel sofort
die Ungleichzeitigkeit der Motive und der Mittel auf. Darin spiegelt sich
eine Ungleichzeitigkeit von Kultur und Gesellschaft, die sich in den
Heimatländern der Täter erst infolge einer beschleunigten und radikal
entwurzelnden Modernisierung herausgebildet hat. Was unter glücklicheren
Umständen immerhin als ein Prozess schöpferischer Zerstörung erfahren
werden konnte, stellt in diesen Ländern keine erfahrbare Kompensation für
den Schmerz des Zerfalls traditioneller Lebensformen in Aussicht. Dabei
ist die Aussicht auf Besserung der materiellen Lebensverhältnisse nur
eines. Entscheidend ist der durch Gefühle der Erniedrigung blockierte
Geisteswandel, der sich politisch in der Trennung von Religion und Staat
ausdrückt. Auch in Europa, dem die Geschichte Jahrhunderte eingeräumt hat,
um eine sensible Einstellung zum Januskopf der Moderne zu finden, ist
„Säkularisierung“ immer noch, wie sich am Streit um die Gentechnik zeigt,
mit hoch ambivalenten Gefühlen besetzt. Verhärtete Orthodoxien gibt es im
Westen ebenso wie im Nahen und im Ferneren Osten, unter Christen und Juden
ebenso wie unter Moslems. Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will,
muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen
Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen. Der Krieg gegen den
Terrorismus ist kein Krieg, und im Terrorismus äußert sich auch - ich
sage: auch - der verhängnisvoll sprachlose Zusammenstoß von Welten, die
jenseits der stummen Gewalt der Terroristen wider Raketen eine gemeinsame
Sprache entwickeln müssen. Angesichts einer Globalisierung, die sich über
entgrenzte Märkte durchsetzt, erhofften sich viele von uns eine Rückkehr
des Politischen in anderer Gestalt. Nicht in der Ursprungsgestalt des
globalisierten Sicherheitsstaates, also in den Dimensionen von Polizei,
Geheimdienst und jetzt eben auch Militär, sondern als weltweit
zivilisierende Gestaltungsmacht. Im Augenblick bleibt uns nicht viel mehr
als die fahle Hoffnung auf eine letzte Vernunft und ein wenig
Selbstbesinnung. Denn jener Rest der Sprachlosigkeit entzweit auch das
eigene Haus. Den Risiken einer andernorts entgleisenden Säkularisierung
werden wir nur mit Augenmaß begegnen, wenn wir uns darüber klar sind, was
Säkularisierung in unseren eigenen postsäkularen Gesellschaften bedeutet.
In dieser Absicht nehme ich heute ein altes Thema, Glaube und
Wissen, wieder auf. Sie dürfen keine Sonntagsrede erwarten, die
polarisiert, die die einen aufspringen, die anderen sitzenbleiben lässt.
Das Wort „Säkularisierung“ hatte zunächst die juristische
Bedeutung der erzwungenen Übereignung von Kirchengütern an die säkulare
Staatsgewalt. Diese Bedeutung ist auf die Entstehung der kulturellen und
gesellschaftlichen Moderne insgesamt übertragen worden. Seitdem verbinden
sich mit „Säkularisierung“ entgegengesetzte Bewertungen, je nachdem ob wir
die erfolgreiche Zähmung der kirchlichen Autorität durch die weltliche
Gewalt oder den Akt der widerrechtlichen Aneignung in den Vordergrund
rücken. Nach der einen Lesart werden religiöse Denkweisen und Lebensformen
durch vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente ersetzt; nach der
anderen Lesart werden die modernen Denk- und Lebensformen als illegitim
entwendete Güter diskriminiert. Das Verdrängungsmodell legt eine
fortschrittsoptimistische Deutung der entzauberten, das Enteignungsmodell
eine verfallstheoretische Deutung der obdachlosen Moderne nahe. Aber beide
Lesarten, denke ich, machen denselben Fehler. Sie betrachten die
Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch
entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen,
den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite.
Dieses Bild passt nicht zu einer postsäkularen Gesellschaft, die
sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich
fortwährend säkularisierenden Gesellschaft einstellt. Ausgeblendet bleibt
in diesem zu engen Bild vor allem die zivilisierende Rolle eines
demokratisch aufgeklärten Commonsense, der sich im kulturkämpferischen
Stimmengewirr gleichsam als dritte Partei zwischen Wissenschaft und
Religion einen eigenen Weg bahnt. Gewiss, aus der Sicht des liberalen
Staates verdienen nur die Religionsgemeinschaften das Prädikat
„vernünftig“, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung
ihrer Glaubenswahrheiten Verzicht leisten. Diese Einsicht verdankt sich
einer dreifachen Reflexion der Gläubigen auf ihre Stellung in einer
pluralistischen Gesellschaft. Das religiöse Bewusstsein muss erstens die
Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen kognitiv
verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften
einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben.
Schließlich muss es sich auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen,
der sich aus einer profanen Moral begründet. Ohne diesen Reflexionsschub
entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften
ein destruktives Potential. Das Wort „Reflexionsschub“ legt freilich die
falsche Vorstellung eines einseitig vollzogenen und abgeschlossenen
Prozesses nahe. Tatsächlich findet diese reflexive Arbeit bei jedem neu
aufbrechenden Konflikt auf den Umschlagplätzen der demokratischen
Öffentlichkeit eine Fortsetzung.
Sobald eine existentiell
relevante Frage, denken Sie an die Gentechnik, auf die politische Agenda
gelangt, prallen die Bürger, gläubige wie ungläubige, mit ihren
weltanschaulich imprägnierten Überzeugungen aufeinander und erfahren so
das anstößige Faktum des weltanschaulichen Pluralismus. Wenn sie mit
diesem Faktum im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit gewaltlos umgehen
lernen, erkennen sie, was die in der Verfassung festgeschriebenen
säkularen Entscheidungsgrundlagen in einer postsäkularen Gesellschaft
bedeuten. Im Streit zwischen Wissens- und Glaubensansprüchen präjudiziert
nämlich der weltanschaulich neutrale Staat politische Entscheidungen
keineswegs zugunsten einer Seite. Die pluralisierte Vernunft des
Staatsbürgerpublikums folgt einer Dynamik der Säkularisierung nur
insofern, als sie im Ergebnis zur gleichen Distanz von starken Traditionen
und weltanschaulichen Inhalten nötigt. Lernbereit bleibt sie aber, ohne
ihre Eigenständigkeit preiszugeben, gleichsam osmotisch nach beiden Seiten
hin, zur Wissenschaft hin und zur Religion hin, geöffnet.
Natürlich muss sich der Commonsense, der sich über die Welt viele
Illusionen macht, von den Wissenschaften vorbehaltlos aufklären lassen.
Aber die in die Lebenswelt eindringenden wissenschaftlichen Theorien
lassen den Rahmen unseres Alltagswissens im Kern unberührt. Wenn wir über
die Welt, und über uns als Wesen in der Welt, etwas Neues lernen,
verändert sich der Inhalt unseres Selbstverständnisses. Kopernikus und
Darwin haben das geozentrische und das anthropozentrische Weltbild
revolutioniert. Dabei hat die Zerstörung der astronomischen Illusion über
den Umlauf der Gestirne geringere Spuren in der Lebenswelt hinterlassen
als die biologische Desillusionierung über die Stellung des Menschen in
der Naturgeschichte. Wissenschaftliche Erkenntnis scheint unser
Selbstverständnis umso mehr zu beunruhigen, je näher sie uns auf den Leib
rückt. Die Hirnforschung belehrt uns über die Physiologie unseres
Bewusstseins. Aber verändert sich damit jenes intuitive Bewusstsein von
Autorschaft und Zurechnungsfähigkeit, das alle unsere Handlungen
begleitet?
Wenn wir mit Max Weber den Blick auf die Anfänge der
„Entzauberung der Welt“ lenken, sehen wir, was auf dem Spiel steht. Die
Natur wird in dem Maße, wie sie der objektivierenden Betrachtung und
kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird, entpersonalisiert. Die
wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem sozialen Bezugssystem von
Personen, die sich gegenseitig Absichten und Motive zuschreiben, heraus.
Was wird nun, so können wir heute fragen, aus solchen Personen, wenn sie
sich nach und nach selber unter naturwissenschaftliche Beschreibungen
subsumieren? Wird sich der Commonsense am Ende vom kontraintuitiven Wissen
der Wissenschaften nicht nur belehren, sondern mit Haut und Haaren
konsumieren lassen? Der Philosoph Winfrid Sellars hat diese Frage 1960 (in
einem berühmten Vortrag über „Philosophy and the Scientific Image of Man“)
mit dem Szenario einer Gesellschaft beantwortet, in der die altmodischen
Sprachspiele unseres Alltages zugunsten der objektivierenden Beschreibung
von Bewusstseinsvorgängen außer Kraft gesetzt worden sind.
Der
Fluchtpunkt dieser Naturalisierung des Geistes ist ein wissenschaftliches
Bild vom Menschen, das auch unser Selbstverständnis vollständig
entsozialisiert. Das könnte freilich nur gelingen, wenn die
Intentionalität des menschlichen Bewusstseins und die Normativität unseres
Handelns in einer solchen Selbstbeschreibung ohne Rest aufgingen. Die
erforderlichen Theorien müssten beispielsweise erklären, wie Personen
Regeln - grammatische, begriffliche oder moralische Regeln - befolgen oder
verletzten können. Sellars Schüler haben das aporetische
Gedankenexperiment ihres Lehrers als Forschungsprogramm missverstanden,
das sie bis heute verfolgen. Das Vorhaben einer naturwissenschaftlichen
Modernisierung unserer Alltagspsychologie hat sogar zu Versuchen einer
Semantik geführt, die gedankliche Inhalte biologisch erklären will. Aber
auch diese avanciertesten Ansätze scheinen an jene Differenz von Sein und
Sollen nicht heranzureichen, die wir meinen, wenn wir Regeln verletzen.
Wenn man beschreibt, wie eine Person etwas getan hat, was sie nicht
gewollt hat und was sie auch nicht hätte tun sollen, dann beschreibt man
sie - aber eben nicht so wie ein naturwissenschaftliches Objekt. Denn in
die Beschreibung von Personen gehen stillschweigend Momente des
vorwissenschaftlichen Selbstverständnisses von sprach- und
handlungsfähigen Subjekten ein. Wenn wir einen Vorgang als die Handlung
einer Person beschreiben, wissen wir beispielsweise, dass wir etwas
beschreiben, das nicht nur wie ein Naturvorgang erklärt, sondern
erforderlichenfalls auch gerechtfertigt werden kann. Im Hintergrund steht
das Bild von Personen, die voneinander Rechenschaft fordern können, die
von Haus aus in normativ geregelte Interaktionen verwickelt sind und sich
in einem Universum öffentlicher Gründe begegnen. Diese im Alltag
mitgeführte Perspektive erklärt die Differenz zwischen dem Sprachspiel der
Rechtfertigung und dem der bloßen Beschreibung. An diesem Dualismus finden
auch die nicht-reduktionistischen Erklärungsstrategien eine Grenze. Das
Bewusstsein von rechenschaftspflichtiger Autorschaft ist der Kern eines
Selbstverständnisses, das sich nur der Perspektive von Beteiligten und
eben nicht von Beobachtern erschließt. Der szientistische Glaube an eine
Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine
objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist
nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie. Auch dem
wissenschaftlich aufgeklärten Commonsense wird es keine Wissenschaft
abnehmen, beispielsweise zu beurteilen, wie wir unter
molekularbiologischen Beschreibungen, die gentechnische Eingriffe möglich
machen, mit vorpersonalem menschlichen Leben umgehen sollen.
Der
Commonsense ist also mit dem Bewusstsein von Personen verschränkt, die
Initiativen ergreifen, Fehler machen und Fehler korrigieren können. Er
behauptet gegenüber den Wissenschaften eine eigensinnige
Perspektivenstruktur. Mit diesem, wie ich denke, naturalistisch nicht
greifbaren Autonomiebewusstsein behauptet der Commonsense auf der anderen
Seite auch den Abstand zu einer religiösen Überlieferung, von deren
normativen Gehalten wir gleichwohl zehren. Gewiss, der demokratische
Commonsense der Staatsbürger hat, wenn man so will, im vernunftrechtlich
konstruierten Gebäude des demokratischen Verfassungsstaates Platz
genommen. Und auch das egalitäre Vernunftrechthat religiöse Wurzeln. Aber
diese vernunftrechtliche Legitimation von Recht und Politik speist sich
aus längst profanisierten Quellen. Der Religion gegenüber beharrt deshalb
der demokratisch aufgeklärte Commonsense auf Gründen, die nicht nur für
Angehörige einer Glaubensgemeinschaft akzeptabel sind. Das weckt freilich
auf Seiten der Gläubigen auch den Argwohn, dass die abendländische
Säkularisierung doch eine Einbahnstraße sein könne, die die Religion am
Rande liegen lässt.
Die Kehrseite der Religionsfreiheit ist
tatsächlich eine Pazifizierung des weltanschaulichen Pluralismus, die
ungleiche Folgelasten hatte. Bisher mutet ja der liberale Staat nur den
Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche
und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen
Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre
Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden. So
machen heute Katholiken und Protestanten, wenn sie für die befruchtete
Eizelle außerhalb des Mutterleibes den Status eines Trägers von
Grundrechten reklamieren, den (vielleicht vorschnellen) Versuch, die
Gottesebenbildlichkeit des Menschengeschöpfs in die säkulare Sprache des
Grundgesetzes zu übersetzen. Die Suche nach Gründen, die auf allgemeine
Akzeptabilität abzielen, würde nur dann nicht zu einem unfairen Ausschluss
der Religion aus der Öffentlichkeit führen und die säkulare Gesellschaft
ihrerseits nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung
abschneiden, wenn sich auch die säkulare Seite ein Gespür für die
Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrte. Die Grenze zwischen
säkularen und religiösen Gründen ist ohnehin fließend. Deshalb sollte die
Festlegung dieser umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe
verstanden werden, die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive der
jeweils anderen einzunehmen.
Der demokratisch aufgeklärte
Commonsense ist kein Singular, sondern schreibt die mentale Verfassung
einer vielstimmigen Öffentlichkeit. Säkulare Mehrheiten dürfen keine
Beschlüsse ausdrücken, bevor sie nicht den Einspruch von Opponenten, die
sich davon in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, Gehör geschenkt
haben; und sie sehen, was daraus zu lernen ist. In Anbetracht der
religiösen Herkunft seiner moralischen Grundlagen sollte der liberale
Staat mit der Möglichkeit rechnen, dass er angesichts ganz neuer
Herausforderungen das Artikulationsniveau der eigenen
Entstehungsgeschichte nicht einholt. Die Sprache des Marktes dringt heute
in alle Poren ein und presst alle zwischenmenschlichen Beziehungen in das
Schema der Orientierung an je eigenen Präferenzen. Das soziale Band, das
aus gegenseitiger Anerkennung geknüpft wird, geht aber in den Begriffen
des Vertrages, der rationalen Wahl und der Nutzungsmaximierung nicht auf.
Aus diesem Grunde wollte Kant das kategorische Sollen nicht im Sog
aufgeklärten Selbstinteresses verschwinden lassen. Er hat die
Willkürfreiheit zur Autonomie erweitert und damit das erste große Beispiel
für eine zwar säkularisierende, aber zugleich rettende Dekonstruktion von
Glaubenswahrheiten gegeben. Bei Kant findet sich die Autorität göttlicher
Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten wieder. Darin
finden wir ein unüberhörbares Echo. Mit seinem Begriff der Autonomie
zerstört Kant gewiss die traditionelle Vorstellung der Gotteskindschaft.
Aber den banalen Folgen einer entleerenden Deflationierung kommt er durch
eine kritische Anverwandlung des religiösen Gehaltes zuvor.
Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß
eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld
verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung
verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte
Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Unumkehrbarkeit
vergangenen Leidens - jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten,
Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher
Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion
hinterlässt eine spürbare Leere. Horkheimers berechtigte Skepsis gegen
Benjamins, wie ich denke, überschwängliche Hoffnung auf die
wiedergutmachende Kraft humanen Eingedenkens - „Die Erschlagenen sind
wirklich erschlagen“, sagt Horkheimer - dementiert ja nicht den
ohnmächtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern. Der
Briefwechsel zwischen Benjamin und Horkheimer stammt aus dem Frühjahr
1937. Beides, der wahre Impuls und dessen Ohnmacht, hat sich nach dem
Holocaust in der ebenso notwendigen wie heillosen Praxis einer
„Aufarbeitung der Vergangenheit“ (Adorno) fortgesetzt. Verstellt, das
sollte ich vielleicht von hier aus sagen, äußert sich der selbe Impuls
auch noch im immer anschwellenden Lamento über das Unangemessene dieser
Praxis. Die ungläubigen Söhne und Töchter der Moderne scheinen in solchen
Augenblicken zu glauben, einander mehr schuldig zu sein und selbst mehr
nötig zu haben, als ihnen von der religiösen Tradition in Übersetzung
zugänglich ist - so, als seien deren semantische Potentiale noch nicht
ausgeschöpft. Diese Ambivalenz kann auch zu der vernünftigen Einstellung
führen, von der Religion Abstand zu halten, ohne sich deren Perspektive zu
verschließen. Diese Einstellung kann die Selbstaufklärung einer vom
Kulturkampf zerrissenen Bürgergesellschaft in die richtige Richtung
lenken. Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache
einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemeine
Resonanz finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit
Vermisstes eine rettende Formulierung einstellt. Sehr selten gelingt das,
aber manchmal. Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich
im Modus der Übersetzung. Das ist es, was der Westen als die weltweit
säkularisierende Macht aus seiner eigenen Geschichte lernen kann. Sonst
wird der Westen auch der arabischen Welt nur als Kreuzritter einer
konkurrierenden Glaubensmacht oder als Handelsreisender einer
instrumentellen Vernunft, die jeden Sinn unter sich begräbt, erscheinen.
Lassen Sie mich die nicht vernichtende Säkularisierung zum Schluss an
einem Beispiel erläutern.
In der Kontroverse über den Umgang mit
menschlichen Embryonen berufen sich immer noch viele Stimmen auf Moses
1,27: Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er
ihn. Dass der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen
schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben, um zu verstehen, was
mit Ebenbildlichkeit gemeint ist. Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem
anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben. Deshalb muss
das Gegenüber in Menschengestalt seinerseits frei sein, um die Zuwendung
Gottes erwidern zu könne. Trotz seiner Ebenbildlichkeit, und darauf kommt
es mir an, wird freilich auch dieser Andere noch als Geschöpf Gottes
vorgestellt. Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückte eine Intuition
aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen, zu
denen ich mich rechne, etwas sagen kann. Gott bleibt nur solange ein „Gott
freier Menschen“, wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und
Geschöpf nicht einebnen. Nur solange bedeutet nämlich die göttliche
Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in
den Arm fällt.
Dieser Schöpfer braucht, weil er Schöpfer- und
Erlösergott in einem ist, nicht wie ein Techniker nach Naturgesetzen zu
operieren, oder wie ein Informatiker nach Regeln eines Codes. Die ins
Leben rufende Stimme Gottes kommuniziert von vornherein innerhalb eines
moralisch empfindlichen Universums. Deshalb kann Gott den Menschen in dem
Sinne „bestimmen“, dass er ihn zur Freiheit gleichzeitig befähigt und
verpflichtet. Nun - man muss nicht an die theologischen Prämissen glauben,
um die Konsequenz zu verstehen. Es käme eine ganz andere, als kausal
vorgestellte Abhängigkeit ins Spiel, wenn die im Schöpfungsbegriff
angenommene Differenz verschwände und ein Peer an die Stelle Gottes träte
- wenn also ein Mensch nach eigenen Präferenzen in die Zufallskombination
von elterlichen Chromosomensätzen eingreifen würde, ohne dafür einen
Konsens mit dem betroffenen Anderen wenigstens kontrafaktisch unterstellen
zu dürfen. Diese Lesart legt die Frage nahe, die mich an anderer Stelle
beschäftigt hat. Müsste nicht der erste Mensch, der einen anderen Menschen
nach eigenem Belieben in seinem natürlichen Sosein festlegt, auch jene
gleichen Freiheiten zerstören, die unter Ebenbürtigen bestehen, um deren
Verschiedenheit zu
garantieren?