Jürgen Habermas im Gespräch mit Pekinger Künstlern und Intellektuellen über Menschenrechte und Marxismus sowie Chinas Weg in die globalisierte Moderne.
Jiang Wen:
Warum sind Sie nach China gekommen, Herr Habermas?
Jürgen
Habermas: Zuvor war ich in Japan und Südkorea. Dort hatte ich immer
das Gefühl, auch schon ein bisschen in China zu sein. Jeder europäische
Intellektuelle will einmal im Leben gerne hierher kommen. Seit dem 18.
Jahrhundert gibt es für uns im Westen nur einen großen Anderen: Das ist
das Reich der Mitte. Es war ein historisches Zentrum und wird wieder
Weltbedeutung erlangen.
Xu Xing: Dann wird Sie China
enttäuschen. China ist heute viel radikaler verwestlicht als etwa Japan
oder Südkorea. Dort hat man zwar die moderne Wirtschaftsweise des Westens
übernommen, aber die eigene Kultur bewahrt. China dagegen hat auch den
Kommunismus und die Diktatur des Proletariats vom Westen übernommen.
Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus wurden verworfen. Die chinesische
Philosophie ist eine ausgestorbene Wissenschaft.
Jürgen
Habermas: Das stellt sich in der Menschenrechtsdiskussion ganz anders
dar: Gemeinsam mit Ländern wie Malaysia und Singapur streitet China für
die so genannten asiatischen Werte. Man will mehr die Pflichten als die
Rechte der Menschen betonen, während Japan und Südkorea weitgehend den
westlichen Menschenrechtsvorstellungen folgen. China und der Westen haben
hier einen großen Diskussionsbedarf.
Shang Dewen: Die
chinesische Führung vertritt keine echten asiatischen Werte. Die
Kommunisten predigen nur deshalb Konfuzius, weil sie die Idee der
Menschenrechte damit für sich instrumentalisieren können. Mehr Rechte für
den Einzelnen widersprechen dem Herrschaftsanspruch der Partei, mehr
Pflichten stützen ihn. Tatsächlich aber ist China ein Land, das wie die
meisten östlichen Gesellschaften den individuellen Wert der einzelnen
Person nicht so stark wie der Westen betont. Unsere
Menschenrechtsvorstellungen werden deshalb noch lange Zeit voneinander
abweichen.
Jürgen Habermas: Aber nehmen wir einmal mit Xu
Xing an, dass nach 1949 unter Mao tatsächlich eine Verwestlichung
eingesetzt hat. Lässt sich dann nicht auf dem Weg der Selbstkritik des
offiziellen Parteimarxismus ein neues Menschenrechtsdenken legitimieren?
Im westlichen Marxismus sind die Menschenrechte doch eingeklagt worden,
als man deren ideologischen Missbrauch kritisierte.
Zhou
Guoping: Anfang der achtziger Jahre gab es bei uns diese Debatte über
den Humanismus bei Marx. Aber nach Intervention der Regierung konnte sie
nicht fortgesetzt werden.
Cui Jian: Die Chinesen haben
Angst vor der Menschenrechtsdebatte, weil sie glauben, dass sie
automatisch zur Verwestlichung führt. Uns fehlt das Selbstbewusstsein, die
Menschenrechte zu unserer ureigenen Sache zu erklären. Vielleicht müssen
wir erst ein Recht auf Selbstbewusstsein einfordern.
Jürgen
Habermas: Auf den ersten Blick wirkt China heute sehr selbstbewusst.
Die vielen jungen Leute, die mir in den Universitäten begegnen, und die
ich auf den Straßen Pekings sehe, scheinen nur den Wunsch zu haben, in
derselben Richtung wie in den letzten Jahren weiterzugehen.
Qian Ning: Gerade junge Menschen und Studenten profitieren
heute von freier Marktwirtschaft und Wettbewerb, wie sie China seit zehn
Jahren einführt. Doch der Reformprozess kennt auch viele Verlierer. Alte
und Arbeitslose haben keine Zukunft. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird
größer. Kurz: Die Grausamkeit der Modernisierung tritt heute immer offener
hervor. Ich bin nicht Marxist genug, um das als unvermeidlichen
historischen Prozess zu akzeptieren.
Jürgen Habermas: Was
in Asien in 30 Jahren passiert ist, hat in Europa 250 Jahre gedauert. Das
erste Stadium der Modernisierung, das Marx die ursprüngliche Akkumulation
nannte, war besonders grausam. Die große Wanderung vom Land zur Stadt, die
Bildung eines städtischen Proletariats - hinter solchen abstrakten
Begriffen verbargen sich qualvolle und zerstörte Lebensgeschichten, wie
viele Menschen sie heute in China erleben. Natürlich kann der Blick auf
die Geschichte neues Unheil nicht rechtfertigen. Aber ist denn die
beschleunigte Modernisierung in China in liberalen demokratischen Bahnen
überhaupt vorstellbar, ohne dass gleich russische Verhältnisse entstehen?
Shang: Unglück führt zu Glück. Bis es so weit ist, sind
Schmerzen in der Gesellschaft unvermeidlich. Das liegt am derzeit in China
herrschenden Widerspruch zwischen einer prosperierenden Marktwirtschaft
und einem alten politischen System. Die weit verbreitete Korruption, in
der viele Chinesen heute das größte Problem ihres Landes erkennen, ist
eine direkte Folge davon, dass der alte politische Mechanismus die neuen
wirtschaftlichen Strukturen nicht mehr effektiv kontrollieren kann. Ein
pluralistischer Markt fordert auch einen pluralistischen Überbau. Die
Modernisierung wird also auch in China die Demokratisierung zufolge haben.
Die Entwicklungen in Taiwan und Südkorea zeigen das. Aber in welchen
Bahnen dieser Prozess verläuft, kann heute niemand sagen. Aus meiner Sicht
muss der demokratische Umbau von der Partei selbst angeregt werden, damit
größere Katastrophen vermieden werden.
Xu: Aber was ist das
Ziel dieser Modernisierung? Wer liefert uns einen Maßstab dafür? Heute
benutzen die meisten von uns traditionelle chinesische Möbel und tragen
westliche Hosen. Sind wir nun modern oder unmodern?
Jürgen
Habermas: Die Modernisierung hat auch eine mentale, intellektuelle
Seite. Es ist doch eine universelle Erfahrung, dass wir heute fähig sind,
gegenüber der eigenen Tradition Abstand zu gewinnen und aus der
Perspektive anderer Traditionen auf die eigene zu schauen. In dem
Augenblick, wo man dabei die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass die
eigene Tradition auch vollkommen falsche Weichen stellt, erreicht man eine
Stufe der Problematisierung, die vormoderne Kulturen nicht haben. Das ist
ein mentaler Zug von moderner Kultur, der keine europäische Erfindung ist
und auch in China heute eine Rolle spielt.
Cui: 250 Jahre
westlicher Modernisierung haben nicht nur industrielle, sondern auch
künstlerische Leistungen hervorgebracht. In Asien, zumal in den autoritär
regierten Ländern, glaubt man nun die wirtschaftliche Modernisierung in
einer viel kürzeren Zeit realisieren zu müssen. Dabei aber stehen
besonders die Künstler unter einem großen Druck, weil es ihnen nun in der
kurzen Zeit gelingen soll, diesen bewegten Zustand mit ihren Werken zu
interpretieren - und das alles unter einer autoritären Regierung. Viele
Künstler versagen vor dieser Aufgabe. Kann es dann aber verwundern, dass
sich eine aufgeklärte Haltung der Bevölkerung - eben die mentale Seite der
Modernisierung - nicht von selbst einstellt?
Jürgen
Habermas: Es gibt Ungleichzeitigkeiten zwischen gesellschaftlicher und
kultureller Modernisierung. Jetzt bricht über Asien die gesellschaftliche
Modernisierung ein: Markt, Mobilität, Kleinfamilie - das alles ist ein
Paket. Die intellektuellen Folgen, die Verbreitung eines reflexiven
Bewusstseins kommen etwas später. In dieser Hinsicht darf man für China
vielleicht doch optimistisch sein.
Xu: Ich bin ein großer
Pessimist. Mir scheint Ihre Definition von Modernisierung zu vage. Zudem
gibt es eigentlich nur ein westliches Modell für Modernisierung. Ich will
deshalb nicht nationalistisch oder patriotisch sein. Aber nach meinem
Gefühl werden sich die Länder durch die Globalisierung immer ähnlicher.
Selbst Peking verliert seinen einzigartigen Charakter. Die Straße des
Ewigen Friedens könnte heute auch eine große Allee in Atlanta sein. Für
einen Schriftsteller ist es, als müsse man in einem Chor singen und hörte
die eigene Stimme nicht mehr.
Jürgen Habermas: Natürlich
reden wir von einem sehr ambivalenten Prozess. Das ist die Dialektik der
Modernisierung: Es gibt Gewinne und Verluste, die sich nicht auseinander
nehmen lassen, sondern zusammengehören. Es ist natürlich nicht nur ein
Vorzug, wenn sich Großfamilien und nationale Zusammengehörigkeiten
auflösen. Man wird einsamer, und die soziale Kälte wächst. Andererseits
kann die Gesellschaft im Prinzip gerechter werden, wenn nämlich alle
Familien in einer Stadt, alle Städte in einem Land und alle Nationen auf
der Erde unter dem gleichen Aspekt von Gerechtigkeit ihre Beziehungen
untereinander organisieren.
Xu: Das wäre erst möglich, wenn
alle ihren eigenen Charakter verlieren.
Jürgen Habermas:
Ich bin auch in Deutschland mit einer ähnlichen Kulturkritik aufgewachsen.
Aber dürfen wir die Lebenschancen und den gebildeten Charakter von wenigen
privilegierten Personen der Vergangenheit - also zum Beispiel der
Mandarine oder der kaiserlichen Gefolgschaft - mit dem heutigen
Durchschnittsbürger auf den Straßen Pekings vergleichen? Aus
kulturkritischer Sicht scheint es so, als würden wir in der
Massengesellschaft unseren Charakter verlieren. Der normale Bürger aber
hat, das nehme ich an, auch in Peking an Möglichkeiten zur Entfaltung des
eigenen Charakters eher hinzugewonnen.
Xu: Es ist für mich
keine Frage, ob ich im Vergleich zu früheren Kaisern heute ein mehr oder
weniger individuelles Leben führe. Mir missfallen die Ergebnisse der
Modernisierung. Deutschland, wo ich längere Zeit gelebt habe, ist für mich
zivilisatorisch kaum weiter entwickelt als China. Churchill hat einmal
gesagt: "Ich weiß, dass das kapitalistische System blutig und grausam ist,
aber es ist das beste System in der menschlichen Geschichte, das ich
kenne." Wie können wir nicht pessimistisch sein?
Jürgen
Habermas: Haben wir eine Alternative? Wenn wir den Prozess einer
gewaltsamen und zugleich befreienden Modernisierung vielleicht
verlangsamen, aber nicht umdrehen können, müssen wir uns sehr anstrengen,
damit wenigstens die Balance des Guten und des Schlechten, das es immer
gibt, erhalten bleibt.
Jiang: Im entwickelten Westen mag es
einer so kunstvollen philosophischen Begründung der Moderne bedürfen - in
China nicht. Denn es gibt nur eines, was die Chinesen heute eint: Ihr
Wunsch, das Land zu verändern. Meine Generation erinnert sich noch an die
eigene Kindheit, damals tobte die Kulturrevolution. Aber sie ist es nicht
wert, erinnert zu werden. Alle Chinesen erinnern sich noch an die alte
chinesische Gesellschaft, an Hofkultur und Untertanenmentalität. Auch das
ist nicht der Erinnerung wert. Wir leben deshalb in einer Gesellschaft
ohne Nostalgie, die ohne Rückschau auf Entwicklung setzt. Xu Xings
Pessimismus klingt für mich vor diesem Hintergrund genauso aufgezwungen
wie der offizielle Optimismus.
Qian:: Genau das ist das
Problem der chinesischen Modernisierung. Man definiert sie wirtschaftlich
oder wissenschaftlich, aber nicht geistig oder philosophisch. So läuft sie
aus Sicht der Intellektuellen zwangsläufig ins Leere.
Zhou:
Hier stellt sich für mich - wie einst für die deutschen Philosophen von
Nietzsche über Heidegger bis Jaspers - die Frage nach den negativen
geistigen Folgen der Modernisierung. In China steht uns diese Debatte noch
bevor.
Jürgen Habermas: Sie kennen diese Debatte offenbar
genauso gut wie ich. Lassen Sie uns das stark vereinfachend am Beispiel
der Demokratie diskutieren. Die Idee der Demokratie entstand auf dem
Höhepunkt der Aufklärung, bei Rousseau und Kant. Die Europäer waren von
dieser Idee fasziniert. Im Laufe einer brutalen Kolonialgeschichte haben
sie andere Völker missioniert und ihnen ihre Denkweise aufzwingen wollen.
Inzwischen sagen uns die Opfer dieser Kolonialisierung, was wir Europäer
im Namen unserer wunderbaren Ideale alles angerichtet haben. Aber nun
lautet die Frage: Sind eigentlich die Ideen falsch, also Freiheit,
Demokratie und Menschenrechte? Oder haben wir diese Ideen bisher nur in
einer sehr einseitigen europäischen Lesart verstanden? Wenn Letzteres der
Fall ist, dann kritisiert sich die Vernunft selber. Dann sehen wir
Europäer ein, dass wir über die genannten Ideen mit anderen Kulturen einen
Dialog führen müssen, der die Voraussetzung dafür ist, dass wir zu einem
gemeinsamen Verständnis dieser Ideen gelangen. Also: Die Wunden, die die
Vernunft schlägt, können, wenn überhaupt, nur durch die Vernunft
überwunden werden.
Cui: Sind Sie ein Optimist oder ein
Pessimist?
Jürgen Habermas: Theoretisch ein Pessimist, in
der Praxis - als guter Kantianer -muss ich mich wie ein Optimist
verhalten. Heute beneide ich die Intellektuellen in China ein wenig. Denn
sie befinden sich in einer Situation, in der sie überhaupt nur produktiv
sein können oder aufhören, Intellektuelle zu sein. Bei uns im Westen
werden Intellektuelle viel weniger gebraucht.
Shang: Auch
in China verändert sich die Rolle der Intellektuellen. Viele dienen der
Partei, viele stellen sich in den Dienst privater Unternehmen. Nur wenige
bleiben unabhängig. Zudem sind die chinesischen Intellektuellen heute
leicht beeinflussbar. Solange Clinton in Washington regierte, waren sie
dem Westen eher zugeneigt. Doch schon die ersten Reibereien mit der
Bush-Administration, von der US-chinesischen Flugzeugkollision bis zu den
amerikanischen Waffenverkäufen an Taiwan, haben viele Intellektuelle auf
die Seite der Partei gebracht.
Jürgen Habermas: Ja, die
Frage ist, ob wir in einer monozentristischen Welt unter der Führungsmacht
Amerika leben werden oder in einer pluralistischen Welt, in der sich drei
oder vier kontinentale Regime miteinander einigen müssen. Der gegenwärtige
Zustand ist durch den Aufstieg Asiens - erst Japan, jetzt China - und die
Einigung Europas charakterisiert. Aus meiner europäischen Sicht wird es
die optimistische Variante, also eine pluralistische und zugleich
friedliche Weltkonstellation, nur geben, wenn sich Europa politisch
wirklich einigt und eine eigene Stimme auch gegenüber den USA gewinnt.
Zugleich müsste die Uno gestärkt, vor allem aber das transnationale
Netzwerk zwischen den großen Mächten verdichtet werden. Denn die neue
pluralistische Weltordnung kann und darf sich nicht mehr nach dem Modell
des alten europäischen Systems souveräner Nationalstaaten richten.
Shang: Wenn es keinen weiteren Weltkrieg gibt, wird die
Welt am Ende pluralistisch werden. Zwar hat die neue US-Regierung unter
Bush Junior noch keine klare politische Linie gefunden und bewahrt bislang
eine Denkweise wie im Kalten Krieg. Aber die Handelsbeziehungen zwischen
China und den USA werden ihr Gewicht nicht verlieren, und ich glaube
deshalb nicht an Krieg.
Jürgen Habermas: Was Bush angeht,
ist meine einzige Hoffnung, dass das amerikanische Volk intelligenter ist
als sein Präsident.
° ° ° ° °
Das Gespräch moderierte Georg
Blume, Die Zeit
Jiang Wen, 37, ist Chinas
populärster Filmschauspieler (Das rote Kornfeld). Mit der Fernsehserie Ein
Pekinger in New York wurde er zum Volksidol. Der Film Teufel vor der Tür,
bei dem Jiang Regie führte, gewann vergangenes Jahr in Cannes die Silberne
Palme.
Cui Jian, 39, ist Chinas erfolgreichster Rockmusiker und
für viele Chinesen die wichtigste Symbolfigur der Studentenrevolte von
1989. Seine Lieder wie Wir haben nichts prägten das
Generationsbewusstsein der heute 30- bis 40-Jährigen.
Qian
Ning, 40, war Kritiker im Feuilleton der Arbeiterzeitung, bevor er für
sechs Jahre nach Amerika ging, als Unternehmensberater zurückkam und sich
als Bestsellerautor einen Namen machte. Er ist Sohn von Vizepremier Qian
Qichen, Chinas einflussreichstem Außenpolitiker.
Xu Xing, 45,
Schriftsteller, schuf mit Variationen ohne Titel das
konstituierende Werk für die neue, von allen Traditionen losgelöste
chinesische Stadtliteratur der neunziger Jahre. Xu ist ein enger Freund
des in Paris lebenden Nobelpreisträgers Gao Xinjiang.
Zhou
Guoping, 45, Philosoph und Schriftsteller, zählt zu den wichtigen
geisteswissenschaftlichen Autoren seines Landes. Seine Bücher befassen
sich mit täglicher Überlebenskunst im modernen China und alter westlicher
Philosophie - nicht selten ein Widerspruch.
Shang Dewen, 69,
Professor für Marxismus und Geschichte der Peking-Universität, ist Autor
eines demokratischen Verfassungsentwurfs für die Volksrepublik. Das
prominente Parteimitglied setzte sich 1997 mit einem offenen Brief an
Parteichef Jiang Zemin für politische Reformen ein.